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Ballaststoff

Ballaststoff

Titel: Ballaststoff
Autoren: Gmeiner-Verlag
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brauchst mir nichts zu erklären, Gesche. Ich weiß sehr gut, wovon du sprichst«. Sie stockte kurz, dann sagte sie: »Ich hatte auch einmal eine Tochter.«
     
    »Tja, Herr Langhusen.«
    Sorgenvoll blickte der Kriminalhauptkommissar den Biobauern an. Es war deutlich zu spüren, wie unangenehm Angermüller diese Situation war.
    »Was machen wir jetzt?«
    Ausführlich hatte Henning Langhusen den Beamten geschildert, wie er Zeuge des besagten Vorfalls zwischen Kurt Staroske und seiner Tochter geworden war, wie er an jenem Nachmittag den Mann zur Rede gestellt und dieser keinerlei Schuldgefühl gezeigt hatte. Im Gegenteil, Kurt Staroske hatte sein Handeln, seine Neigung, als etwas ganz Natürliches verteidigt, das Leute wie Henning, mit ihren verklemmten Moralvorstellungen, gar nicht begreifen könnten.
    Auch die ohnmächtige Wut, die ihn plötzlich gepackt hatte, beschrieb Henning Langhusen noch einmal ganz genau. Dieses übermächtige Gefühl, das sich wie rabenschwarze Dunkelheit über ihn gesenkt und alle Rationalität ausgeschaltet hatte. Und wie er danach wie in Trance davongelaufen war.
    »Ich würde Ihnen wirklich gern glauben, Herr Langhusen«, versicherte Angermüller und rieb bekümmert sein Dreitagebartkinn, »aber woher wissen wir, dass Sie in diesem quasi besinnungslosen Zustand nicht noch ganz andere Dinge getan haben, an die Sie sich jetzt gar nicht mehr erinnern können?«
    »Tja«, machte Langhusen und sah die Beamten an. »Da kann ich Ihnen leider auch nicht weiterhelfen.«
    Von der Tür kam ein leises Klopfen. Angermüller und Langhusen riefen gleichzeitig ein Herein.
    Es war die Malerin, die nebenan wohnte.
    »Bitte?«, fragte Jansen ziemlich barsch angesichts dieser unwillkommenen Unterbrechung. »Was wollen Sie?«
    »Guten Tag«, kam höflich die Antwort. »Ich würde gern eine Aussage machen.«
     
    Über eine Stunde saßen die Kommissare mit Tilde Brunkhorst im Wohnzimmer auf dem Graswurzelhof und hörten ihr zu, zuerst abwartend und skeptisch, dann immer mehr gefangen von dem, was die Frau berichtete, und schließlich überzeugt, dass sie die Wahrheit gehört hatten.
     
    Wenn ein Fall kurz vor seinem Abschluss stand – natürlich war noch einiges an Untersuchungen nötig, an formalen Abläufen, um die Aussage der Täterin rechtsgültig zu bestätigen – ,begann sich in Angermüller normalerweise ein Gefühl beruhigender Genugtuung auszubreiten. Doch dieses Mal wartete er vergeblich darauf, es wollte sich nicht einstellen. Immer wieder fielen ihm Julia und Judith ein, seine Töchter, die äußerlich schon so erwachsen geworden waren in letzter Zeit. Doch es gab so viele Momente, da waren sie immer noch die kleinen Mädchen, die den Schutz und Rat ihrer Eltern brauchten. Er dachte an die Dinge, die Astrid und er vorgestern besprochen hatten, und fühlte sich alles andere als wohl bei dem Gedanken daran, den Kindern am Wochenende ihre Entscheidung vermitteln zu müssen. Er schwor sich, ihnen auch in Zukunft nach Kräften zur Seite zu stehen, wann immer sie ihn brauchten. Die Kinder sind einfach das Wichtigste in unserem Leben, dachte er.
    Er sah zu der Malerin, die aufrecht, mit in die Weite gerichtetem Blick, den Beamten gegenüber auf dem Sofa saß. Angermüller konnte nicht anders, er empfand ein tiefes Mitgefühl für Tilde Brunkhorst. Natürlich musste sie für ihre Tat verurteilt werden, natürlich musste sie bestraft werden, aber er spürte ihn wieder einmal deutlich, den schmalen Grat, auf dem ein Mensch sich bewegte, und den Zufall, der darüber entschied, ob er zum Täter wurde oder nicht.

Epilog
    Glauben Sie an so etwas wie Schicksal, Vorsehung?
     
    Ich bin schon oft umgezogen in meinem Leben, immer von Großstadt zu Großstadt. Am Ende bin ich irgendwann aber immer wieder in Berlin gelandet. Dort bin ich geboren, dort ist meine Tochter geboren, dort habe ich den größten Teil meines Lebens verbracht – und das Wichtigste davon verloren.
    Nach einiger Zeit wurden die dunklen Erinnerungen immer so stark, so erdrückend, dass ich wieder aus meiner Heimatstadt geflohen bin. Die Bilder ließen mich irgendwann einfach nicht mehr los, und ich wollte nur noch weg. Ich war in München, Paris, Düsseldorf, Frankfurt, London, nirgends wurde ich richtig heimisch, kehrte stets nach Berlin zurück, und dort brachen mir die Erinnerungen regelmäßig wieder das Herz.
    Im Frühjahr dieses Jahres bin ich hierher aufs Land gezogen. Ich sehnte mich nach Ruhe. Ich wollte endlich irgendwo
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