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Bahners, Patrick

Bahners, Patrick

Titel: Bahners, Patrick
Autoren: Die Panik-Macher
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Diskussion stattfindet, ist allen Beteiligten bekannt. Der
Gebrauch dieses Arguments setzt selbst wiederum moralische Klugheit voraus: Es
zielt auf die Person des Angesprochenen und exponiert daher auch die Person des
Sprechers. Wer bestimmte Argumente, Tonfälle, Zungenschläge als unpassend
qualifiziert, setzt sich immer dem Risiko aus, als Spießer, Spielverderber und
Sprachpolizist dazustehen. Er kann sich die Antwort einfangen: Gerade dieses
drastische Wort oder Bild ist erst recht am Platz.
    Die gesetzlichen Monarchien des Abendlands unterscheiden
sich vom orientalischen Despotismus dadurch, dass der Untertan sich vom
schlecht informierten König an den besser zu informierenden König wenden kann.
Man unterstellt, der König habe gar nicht gewusst, welchen Willkürakt er da
anordnete, sei schlecht beraten gewesen und könne sich ohne Gesichtsverlust
korrigieren. Nach diesem Modell wird noch heute in jedem demokratischen Streit
der kränkende Effekt moralischer Urteile neutralisiert. Man appelliert, wenn
man zu verstehen geben will, etwas wäre besser ungesagt geblieben, vom
unvorsichtigen an den einsichtsfähigen Mitbürger und Mitherrscher. Solche Rügen
geben zu verstehen: Das haben Sie doch nicht so gemeint! Das können Sie doch
nicht ernsthaft gesagt haben wollen! Die Person, die sich den Fehltritt
vorhalten lassen muss, bekommt die Gelegenheit, sich mit Anstand aus der Affäre
zu ziehen. Im Englischen drückt den Umstand, dass es kein ziviles Zusammenleben
ohne Sprachregelungen gibt, das klare Wort von der «polite society» aus. Es
gibt Wörter, die man «in polite society» nicht in den Mund nimmt. Die
friedliche Gesellschaft ist eben die höfliche. Den Achtundsechzigern wird
gerne vorgeworfen, sie hätten der Höflichkeit den Garaus gemacht und die
Entzivilisierung, deren Fanale sie im Hörsaal setzten, in den Alltag
hinübergetragen. Wie viel Zuspruch Sarrazin in den Kreisen gefunden hat, in denen
der Vorwurf zirkuliert, das ist eine Ironie der Geschichte, die wenig froh
stimmen kann.
    Bedenklich nannte es Alan Posener im Dezember 2009 in der
«Welt», dass ein bürgerliches Publikum auf einmal Geschmack an der Regelverletzung
fand. Es applaudierte dem Bundesbankvorstand, der auf Zuwanderer schimpfte, und
dem Hochschulrektor, der gegen die Kleptokratie des Fiskus wetterte. Posener
sah sich zu einer Apologie der politischen Korrektheit veranlasst. Was unter
diesem Namen attackiert werde, seien die Anstandsregeln des zivilisierten
Umgangs. Sarrazin und Sloterdijk hätten überhaupt nichts Neues, aus der politischen
Debatte Ausgeschlossenes zur Sprache gebracht. «Dass die Steuer- und
Abgabenlast für die Mittelschicht zu groß, die Integration von Einwanderern
nicht leicht und das Entstehen eines von Sozialhilfe abhängigen Subproletariats
für das Gemeinwesen fatal ist, wird ja von niemandem bestritten. Der Beifall
gilt gerade der Emphase; dem Gestus des Aufstands; den Übertreibungen und
Geschmacklosigkeiten - eben dem Angriff auf den Anstand.»
    Der erzaufklärerische Historiker Edward Gibbon wollte das
Christentum diskreditieren, indem er aus den Quellen nachwies, dass viel
weniger Christen auf Befehl der Kaiser umgebracht worden seien als in der
hagiographischen Überlieferung behauptet. Doch durch Quellenkritik war nicht
zu revidieren, dass der Glaube die Märtyrer gemacht hatte, was immer auch in
der Arena geschehen sein mochte. Auch um Sarrazin bildete sich schon nach dem
«Lettre»-Interview in erstaunlicher Schnelligkeit eine Gemeinde. Seine frühere,
eigentlich rein lokale Beliebtheit hatte damit fast nichts zu tun: der
berlintypische bunte Vogel, hier die Krähe, die allen anderen Krähen die Augen
aushackt. Auf einem Altarbild müsste man den heiligen Thilo mit der Zunge in
der Hand darstellen, die die Folterer ihm abgeschnitten haben. Nicht dass er
wirklich verstummt wäre!
    Peter Sloterdijk musste sich dumm stellen, um die
Behauptung in die Welt zu setzen, Sarrazin habe wegen freimütigen Gebrauchs der
Redefreiheit die Vernichtung seiner bürgerlichen Existenz fürchten müssen. Als
Mitglied des Bundesbankvorstands war Sarrazin nun einmal mehr als ein
Meinungsbesitzer, wurde nicht wie ein Philosophieprofessor nur fürs Meinen
bezahlt. Mit einem Jahr Verzögerung trat, von Sarrazin selbst provoziert, der
schlimmste Fall ein: Der ohnehin bevorstehende Ruhestand ereilte ihn ein klein
wenig früher. Aber wenn es darum ging, die Wahrheit in Umlauf zu bringen: Musste
das nach den Maßstäben
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