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Bahners, Patrick

Bahners, Patrick

Titel: Bahners, Patrick
Autoren: Die Panik-Macher
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willkommen; der Rest sollte woanders hingehen.»
    Sarrazin beschwört eine tragisch-heroische Politik, die
der Naturgewalt der demographischen Entwicklung schmälste Spielräume abringt.
Wie der auf Weltuntergangspanoramabilder spezialisierte romantische Maler John
Martin findet er seine Motive in der gesamten Menschheitsüberlieferung. Das
Grundmodell des Menschenmaterialverfalls vor erhaben gleichgültiger
Naturkulisse skizzierte er im Gespräch mit Henryk M. Broder am Beispiel der
Gegend, in der ihm als Wehrdienstleistendem 1965 aufgefallen war, dass die
Mädchen dort anders als im Ruhrgebiet fast alle blond waren. «Die Natur kennt
kein Vakuum. Menschen werden in der norddeutschen Tiefebene immer leben. Die
Infrastruktur ist gut, das Klima ist angenehm. Fragt sich nur: Wer. Und das ist
wie bei Wasser, es fließt immer bergab. Außer man baut Staudämme.» Zu dem von
Alexander Demandt und Niall Ferguson wiederbelebten Genre der kontrafaktischen
Historie steuerte Sarrazin im gleichen Interview die kürzeste alternative Geschichte
Amerikas bei: «Hätten die Indianer eine strikte Einwanderungspolitik betrieben
und jeden Weißen unverzüglich wieder ins Meer geworfen, dann stünde es heute
anders um die indianischen Nationen.»
    Vor dem Hintergrund seiner eigenen Prämissen kann man die
Ordnungsidee einer durch Umsiedlungsmaßnahmen verbesserten Bildungsstatistik
nur wahnhaft nennen. Sarrazin, der Fachmann der Zahlen und Veteran
sozialdemokratischer Globalsteuerungsdebatten, hat sich einem eugenischen
Pessimismus ergeben, der schon vor hundert Jahren große Teile gerade des
aufgeklärten, wissenschaftsgläubigen Bürgertums im Griff hatte. Mit dem Wandel
der moralischen Mode sind die Rollen neu verteilt worden, das Textbuch ist das
gleiche. Damals hatte man in den gutbürgerlichen Kreisen Angst vor den
Geburtenraten der Proletarier und der Ostjuden, heute wird die Araberin als
Muttertier karikiert, das in einem fort Mädchen wirft, während es Sarrazin
«gefallen» würde, wenn statt der Türken «osteuropäische Juden» kämen «mit einem
um 15 Prozent höheren IQ als dem der deutschen Bevölkerung». Frank
Schirrmacher hat Sarrazin den «Ghostwriter einer verängstigten Gesellschaft»
genannt. In «Deutschland schafft sich ab» kündigt sich die moralische Wende an,
vor der Schirrmacher in seinem Buch «Das Methusalem-Komplott» gewarnt hatte.
«Sarrazin argumentiert aus einer Position der Verzweiflung heraus. Die demographischen
Prozesse sind so träge, dass die Transformation unserer Gesellschaft nicht
aufzuhalten ist.» Das pessimistische Weltbild dieser Biopolitik erklärt das
Aggressive von Sarrazins Rhetorik. Die Wenigen, die überhaupt zu erreichen
sind, müssen unbedingt mobilisiert werden - und sei es nur, damit sie im
Untergang Haltung zeigen.
    Einer von Sarrazins Gewährsleuten, der Neuköllner
Bürgermeister Heinz Buschkowsky, gibt bereitwillig Auskunft darüber, dass er in
seinen öffentlichen Interventionen eine Strategie des «shock and awe»
verfolgt. Auch er öffnete für einen Reporter der «Süddeutschen Zeitung» den
rhetorischen Werkzeugkasten: «Nehmen wir den letzten Aufreger, Versaufen: Ich
wusste genau, dass da die Seiter hochgeht. Aber das wollte ich. Ich wollte eine
Debatte über Kinder in der Unterschicht und den Unsinn des Betreuungsgeldes.»
Zufrieden stellte Buschkowsky fest: «Ich habe auf den Pawlowschen Reflex der
Öffentlichkeit gesetzt, und es hat funktioniert.» Ausdrücklich also bezeichnete
der SPD-Politiker das Einwirken auf die Öffentlichkeit als Konditionierung.
Den habermasianischen Idealismus des besseren Arguments, soll das heißen,
können wir uns in Neukölln nicht leisten. Buschkowsky, Sarrazin und Sloterdijk
beschwören zur Legitimierung ihrer Rhetorik der Zuspitzung eine Situation der
präventiven Notwehr. Das Kartell der Meinungsbesitzer rechtfertigt jedes Gegenmittel
der Gegenmeinungsbesitzer. Sarrazin kannte, als er sein Interview gab und sein
Buch schrieb, seinen Einsatz, sein Risiko und den Gewinn, den er sich
versprach: «Man stößt gegen viele Mauern der politischen Korrektheit, aber man
merkt, dass der Ton an Deutlichkeit zunimmt.» Wenn Mauern dem Ansturm
standhalten, muss man stärkere Geschütze verwenden. Auf jeden Aufreger muss man
einen größeren setzen.
    Wenn Sloterdijk die «Berufsempörer» als Käfigtiere
beschreibt und sie wie ein Zirkusdirektor «keifen und hetzen», «eifern und
geifern» lässt, dann folgt diese Vermehrung eines
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