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Bahners, Patrick

Bahners, Patrick

Titel: Bahners, Patrick
Autoren: Die Panik-Macher
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Sloterdijks, des Philosophen der verschwenderischen
Gabe, nicht einen Abstrich an der Pension wert sein? Und wie sollte der Bund
der Feiglinge die Markteinführung dieser Wahrheit mit Existenzvernichtung
bestrafen können, wenn auf dieselbe Wahrheit schon Existenzen gegründet worden
sind? Neda Kelek ist das sogar ohne ein Existenzgründerdarlehen gelungen, wie
es der Gemüsehändler bekommt. Sarrazins Kritiker haben ihm nicht die
Meinungsfreiheit abgesprochen, die nach Artikel 5 des Grundgesetzes jedermann
zusteht. Es liegt bloß in der Natur dieses Grundrechts, dass sein Gebrauch sehr
häufig in der impliziten und expliziten Kritik des Gebrauchs besteht, den ein
anderer von ihm macht. Inwieweit aus Sarrazins Amtspflichten in der Bundesbank
folgte, dass er sich Zurückhaltung im Gebrauch seiner staatsbürgerlichen
Rechte aus Artikel 5 aufzuerlegen hatte, war eine dienstrechtliche Frage, die
bei einem Staatsunternehmen dieser symbolischen Bedeutung allerdings die
Öffentlichkeit anging.
    Die meisten derer, die für Sarrazin zur Feder griffen,
würden sich wahrscheinlich als bürgerlich beschreiben, viele wohl auch als
konservativ. Es war frappierend, dass diese Verteidiger Sarrazins für ein Prinzip
der bürgerlichen Gesellschaft überhaupt keinen Sinn aufbringen wollten: den
Gedanken der Rolle und der aus ihr fließenden formellen und informellen
Pflichten. Sarrazin war Mitglied einer Institution und wurde bei allen seinen
öffentlichen Einlassungen als Mitglied dieser Institution wahrgenommen. Das
konnte eigentlich keinen Politiker, keinen Pfarrer und keinen Zeitungsredakteur
überraschen. Ein Recht zur Selbstverwirklichung durch geschäftsschädigende
Aussagen wurde dem Bundesbank-Vorständler von Kommentatoren zugesprochen, die
in anderem Kontext die Auffassung vertraten, dass die Zurückhaltungspflicht der
beamteten Lehrerin bei der Kleidung beginne. Bundesbankpräsident Weber
begründete seinen Tadel Sarrazins damit, dass Mitglieder des Vorstands
Stellungnahmen zu allgemeinpolitischen Fragen zu unterlassen hätten. Diese
Regel setzt die Gewaltenteilung in die Praxis wechselseitiger Rücksichtnahme
um: Umgekehrt erwartet die Bundesbank auch, dass die Politik ihr nicht in die
Angelegenheiten der Zentralbankgeschäfte hineinredet. Als ungehörig erschienen
Sarrazins Vorträge über die Einwanderungspolitik im Lichte der Gesetze der
Vererbung also schon aus einem rein formalen Grund, vor jedem Disput über den
guten Geschmack.
    Weber wurde nun nicht entgegengehalten, er habe sich die
Regel ad hoc ausgedacht oder aber es habe über die Jahre immer wieder Ausnahmen
gegeben. Stattdessen wurde die Regel der politischen Zurückhaltung der
Zentralbankvorstände als willkürliche Beschränkung des demokratischen
Schlagabtauschs angegriffen. Dass Anstoß genommen wurde am Stil, in dem sich
Sarrazin über die Türken und Araber der Stadt vernehmen ließ, in deren
Regierung er gesessen hatte, galt als Eingeständnis der Kritiker, dass sie ihm
in der Sache nichts erwidern könnten. Dieses Durchstoßen der Sphäre von Takt
und Ton, das höhnische Hinausposaunen des Verdachts, die Mäkelei in Formfragen
sei ein Zeichen der Schwäche, ist etwas Neues in der Geschichte der
Bundesrepublik. Auf ungute Weise antwortet der Überdruss, mit dem Sarrazins
Publikum Kompetenz- und Commentgesichtspunkte quittiert, dem Hochmut, mit dem
Sarrazin sich über die Konventionen der öffentlichen Rede hinwegsetzt. Das
Kalkül der Grenzüberschreitung trifft zusammen mit dem Rausch der Entgrenzung,
dem Erlebnis, endlich einmal ausgesprochen zu hören, was angeblich sonst
niemand zu sagen wagt. Als hätte man es nicht schon oft gehört. Als läge der
Kick nicht gerade darin, dass man es nicht oft genug hören kann.
    Die im «Lettre»-Interview inkriminierten Sätze seien aus
dem Zusammenhang gerissen worden - das war die erwartbare erste Verteidigungslinie
der Anwälte Sarrazins. Nicht nur muss aber ein Politiker und Spitzenmanager
damit rechnen, dass Sätze aus dem Zusammenhang gelöst und für sich zitiert
werden. Sarrazin hatte es offenbar auf eine solche Rezeption angelegt. Er hatte
Sätze formuliert, die dazu gemacht waren, losgelöst von ihrem Zusammenhang die
Runde zu machen. So hatte er als Berliner Finanzsenator durch provokative
Sprüche Freiräume für eine Politik herbeigesprengt, die der Wählerschaft
seiner Partei suspekt war. Der Interviewte hat das rhetorische Verfahren, nach
dem er die Antworten gestrickt hat, im Interview selbst
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