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Bahners, Patrick

Bahners, Patrick

Titel: Bahners, Patrick
Autoren: Die Panik-Macher
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unbehinderten Meinungsäußerung
- in einem System der Unterwürfigkeit, besser gesagt: der organisierten
sprachlichen und gedanklichen Feigheit eingerichtet, das praktisch das ganze
soziale Feld von oben bis unten paralysiert.»
    Der klassische Topos für die im Alltag evident werdende
Kontingenz der Sitten sind die Reinheitsvorschriften. Diskret auf das Leitmotiv
der ethnologischen Komparatistik anspielend, wählte Sloterdijk für die Tyrannei
der herrschenden Meinung das Bild eines Hygieneregimes, in dem sich die
praktischen Verheißungen der aufgeklärten Wissenschaft vom Menschen als Fluch
totaler Kontrolle erfüllt haben. «Unsere sogenannte <Öffentlichkeit>, der
politisch-publizistische Raum, die Sphäre der vorgesagten und nachgesagten
Meinungen ist auf eine Weise durchsterilisiert und homogenisiert, dass man meinen
möchte, fast alle, die bei uns öffentlich das Wort nehmen, kämen geradewegs aus
dem Desinfektionsbad.» Montesquieu legte seine Kritik des geistlich-politischen
Komplexes, der die Zivilisation Europas geprägt hatte, Ungläubigen aus dem
Morgenland in den Mund, weil im konfessionellen Staat der französischen
Monarchie, der nach einhelliger Auffassung der Zeitgenossen den Gipfelpunkt der
Kulturentwicklung bildete, die Zensur herrschte. Die Überwachung aller
Lebensäußerungen ist sozusagen das unsichtbare Hauptthema der fiktiven Reisebeschreibung,
die politische Bedingung, die das Unnatürliche der französischen und
katholischen Einrichtungen erklärt. Was die literarische Form betrifft, ging
Sloterdijks Nachahmung Rousseaus also perfekt auf. Das aufgeklärte politische
Denken hat den orientalischen Despotismus als Gegenbild zur westlichen
Freiheit erfunden. Montesquieu analysiert ihn in seinem anderen Klassiker, dem
«Geist der Gesetze». Als eine solche Despotie, geistig schlaff und eben deshalb
grausam, malte sich Sloterdijk nun jene verborgene Tyrannis aus, die liberale
Selbstkritik seit John Stuart Mill immer wieder hinter der scheinbar
herrschaftsfreien Kommunikation im Reich der öffentlichen Meinung vermutet hat.
    Sogar einen leibhaftigen Despoten wie aus dem Bilderbuch
des Orientalismus holte er ins Bild, den Sultan Helmut Kohl. Nun hat Kohl ja,
wenn die Erinnerung nicht trügt, wenigstens bis 1990 gegen die öffentliche
Meinung oder jedenfalls deren Wortführer regiert, deren Tyrannis somit
vielleicht doch zu virtuell blieb. Aber die Indolenz, die Sloterdijk wie
weiland Karl Heinz Bohrer der Gestalt Kohls ablas, wurde bei diesem virtuosen
Arrangeur von Reizvokabelpanoramen zur Metapher für die Feigheit der
politischen Debatte. Schon «durch seine markant formlose Physis» habe Kohl den
«Zeitgeist des finalen Konsumismus prophetisch» verkörpert. Der Konsumterror
hatte laut Sloterdijk inzwischen auch das öffentliche Reden lahmgelegt: Originelle
Gedanken wurden nicht mehr produziert oder fanden jedenfalls keine Abnehmer,
Meinungsbesitzer genossen das, was sie schon x-mal zu sich genommen und von
sich gegeben hatten. Die ironische Pointe des Prospekts, mit dem Sloterdijk für
seine Neupersischen Briefe warb, hatte die Bündigkeit aller aufklärerischen
Wahrheiten. «Die Perser würden glauben, sie entdeckten auf fremdem Boden
orientalische Verhältnisse wieder.»
    Aber würden sie das wirklich glauben? Hätten sie wirklich
im Hotelzimmer vor «Anne Will» und «Beckmann», bei der Frühstückslektüre von
Tageszeitungen, «Spiegel» und vielleicht sogar «Cicero» dieses Dejá-vu? Man
nehme Peter Sloterdijks Herausforderung unserer Phantasie an und stelle sich
zwei junge Herren vor, die der antiwestlichen Propaganda nicht trauen und mit
eigenen Augen sehen wollen, wie wir hier leben. Mit Sicherheit benutzen sie das
Internet, wenn der Zugang nicht blockiert ist. Aber auch wenn sie über die
technische und geistige Ausrüstung für Weltbürger verfügen, sind sie, wenn wir
von ihrem Besuch etwas haben sollen, nicht restlos verwestlicht. In ihrer Seele
sind die gierartigen und die stolzartigen Affekte noch im Gleichgewicht. Wenn
sie den Mund aufmachen, dann flattern nicht nur die Figuren der von Sloterdijk
verabscheuten Mangelrhetorik heraus. Sie reden nicht nur wie die Deutschen
«vom Fehlen, vom Brauchen, vom Nicht-Haben und vom Beantragen», auch wenn sie
vielleicht mit einem Stipendium in Deutschland sind und für ihre Forschungen
über das deutsche Selbstwertgefühl noch eine Anschlussfinanzierung suchen. Sie
haben noch ein Empfinden für den Stolz, die Ehre, die
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