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Bahnen ziehen (German Edition)

Bahnen ziehen (German Edition)

Titel: Bahnen ziehen (German Edition)
Autoren: Leanne Shapton
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das Becken. Bis zum Hals im Wasser setze ich mich auf jede der drei flachen Treppen. Eine davon führt direkt in die Wand. Nachdem ich mich eine Weile treiben lasse und mich umsehe, schwimme ich wieder nach innen und probiere das Eisbad aus, ein kleines Becken mit Kiesgrund, das auf vierzehn Grad Celsius gekühlt ist. Ich schaffe es nur einmal unterzutauchen, dann gehe ich direkt ins Feuerbad , dessen Wasser zweiundvierzig Grad heiß ist. Ich erforsche jeden Raum und jedes Becken: eins davon parfümiert und voller Blütenblätter; drei Dampfbäder mit glatten Marmortischen in der Größe von Sarkophagen, angestrahlt von bernsteinfarbenem Licht; ein Warmwasserlabyrinth, das zum Grund eines hohen Kubus führt, wie ein konzeptuelles modernistisches Verlies.
    Am Ende schwimme ich in das große Innenbad , über dem ein Gitter kleiner blauer Oberlichter schimmert. Das Bad schließt in zwanzig Minuten und leert sich bereits. Bis auf eine Frau in einem gestreiften Bikini bin ich allein. Als ich mich an einem Geländer unter Wasser entlang hangele, sehe ich, wie sie rückwärts auf einen Messinghandlauf zuschwimmt. Ich rufe ihr zu, aber ihre Ohren sind im Wasser und sie schlägt sich den Kopf an.
    Im Wasser ist die Kommunikation körperlich. Ich mag es, fremden Körpern so nahe zu sein, ihre Unbeholfenheit und Verwundbarkeit zu sehen. Ein Mann im Feuerbad scheint sich in seiner Badehose zutiefst unbehaglich zu fühlen; eine Frau, deren gedrungener Körperbau auf eine ehemalige Turnerin schließen lässt, kaut Kaugummi. Ich treibe hinter einem älteren Ehepaar her, das die Köpfe sorgsam über Wasser hält und einen Geruchvon staubigem Parfum und Auto verströmt. Frauen tragen Badeanzüge, die zu groß oder zu klein sind, die Muskeln von Männern wirken armselig oder übertrieben.
    Als ich, wie immer nach einem Ferienmittagsschläfchen, schlecht gelaunt aufwache, beruhigt mich die Anwesenheit des komplexen Systems von Becken und Dampfbädern im Berg unter uns. Die Architektur ruft ein Gefühl wie beim Fliegen hervor: Bin ich im Wasser, vermitteln mir Zumthors hoch emporragende Gesteinsschichten nicht das Gefühl, an der Erdoberfläche zu schwimmen, vielmehr ist es, als würde ich durch tiefe Räume gleiten, durch Flure und Winkel, Höfe und Säle. Bei den meisten Schwimmbad-Grundrissen ist das Wasser von horizontalen Flächen umgeben – Zumthor hat das Gegenteil getan und umgibt die Becken mit geschichteten Vertikalen, wodurch das Wasser zu einem Element wird, auf dem man schwebt, statt einzutauchen. Als würde hier, mitten im schweren Fels, unter Bergen, die Masse unseres eigenen Körpers nicht ins Gewicht fallen.
    Während des stillen Nachtbadens steigt ein Paar ins Wasser und sieht sich um, dann treiben sie aufeinander zu, tauschen Blicke und verhaltene Berührungen. Die Zärtlichen kommen einander ganz nah, Gesicht an Gesicht, streicheln sich gegenseitig den Kopf, wiegen einander, schieben einander und halten sich leicht. Die Haltung ist passiv, ergeben, Kinn und Nacken entblößt. Wenn einer den anderen, der auf dem Rücken treibt, hält, bilden die Badenden eine willkürliche, schwebende Pietà, eine Geste, die hingebungsvoll und wunderschön ist.
    Die Szene erinnert mich daran, wie ich Mund-zu-Mund-Beatmung lernte. Wie man uns beibrachte, dem Opfer den Kopf zurückzubiegen und die Nase zuzuhalten, um die Atemwege frei zu machen, eine Haltung, die mich heute noch verunsichert. Die Hälfte der Klasse wurde aus der Halle geschickt, in die Umkleidekabine oder auf den Flur, um nach ein paar Minuten zurückzukommen, während die andere Hälfte Notfallsituationen simulierte. Es war immer einer am Grund des Beckens, ein anderer war an der Leiter und fuchtelte mit den Armen. Es gab immer eine Fleischwunde, eine Kopfverletzung, jemanden, der ohnmächtig auf den Fliesen lag, und ein paar panische Schwimmer am tiefen Ende, die riefen, sie könnten nicht schwimmen. Wir rannten den Opfern zu Hilfe, während die Lehrer unsere Rettungsmaßnahmen überwachten – manche bestanden auf »vollen Mundkontakt«, während es andere nicht störte, wenn wir ein paar Zentimeter Abstand ließen. Ich kann mich gut an zwei Klassenkameraden erinnern, ein tropfender Junge auf Knien, der sich fest entschlossen über den anderen beugte und ihm mit seinem Atem die Backen aufblies, ihre Lippen gummiartig und rutschig aufeinander.
    Zwischen meinen drei Bädern am Tag male ich die Aussicht aus meinem Fenster dreiundzwanzigmal. Unser Zimmer ist ganz oben
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