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Bahnen ziehen (German Edition)

Bahnen ziehen (German Edition)

Titel: Bahnen ziehen (German Edition)
Autoren: Leanne Shapton
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Second-Hand-Kleider, mottenzerfressene Decken liegen über Jasons Kameraausrüstung. Eines der Bilder, die mein Vater auf der Kunstakademie gemalt hat, steckt zwischen unserem Gepäck. Ich bin überzeugt, dass sie uns rechts ranfahren lassen werden, um uns auszufragen, wie es mir häufiger passiert. Der Zollbeamte kommt aus seiner Kabine und bittet mich, den Kofferraum zu öffnen. Ich ziehe den Hebel. Wir hören, wie er hinten herumstöbert. Dann: »Wer ist der Schwimmer?« Ich lächele Jason an. »Ich.« Leise wird die Kofferraumhaube geschlossen. Der Beamte gibt uns ohne weitere Fragen die Pässe zurück und sagt nur: »Fahrt vorsichtig.« Bevor wir zu Hause aufgebrochen waren, hatte ich eine große Tasche in den Wagen geladen; darin waren meine Gold-, Silber- und Bronzemedaillen aus acht Jahren Schwimmen.
    In Berlin lerne ich einen Künstler kennen, der jeden Morgen schwimmen geht, und frage ihn nach den Schwimmbädern der Stadt. Er schreibt mir schnell eine Liste seiner Lieblingsbäder in mein Notizbuch. Seine täglichen Bahnen zieht er im Stadtbad Mitte in der Gartenstraße.
    Ich fahre zuerst zum Stadtbad Charlottenburg »Alte Halle«, einem kleinen hübschen Hallenbad in den baumbestandenen Straßen Westberlins. Ich leihe mir vom Bademeister eine Kinderschwimmbrille und schwimme kurze Bahnen neben der dicken roten Leine, die das Becken teilt. Unter dem Giebel am tiefen Ende ist ein elaboriertes Wandgemälde von Hylas und den Nymphen zu sehen. Die Schwimmhalle ist schön, aber sie fühlt sich überladen an, wie ein Wohnzimmer. Die anderen Schwimmer scheint mein Planschen zu stören.
    Das Stadtbad Mitte, 1930 fertiggestellt, ist ein hoch aufragender gerasteter Glaskasten. Dank seines hohen längsunterteilten transparenten Dachs ist es hell und ungewöhnlich luftig für ein Hallenbad. (1945 wurde das Dach von zwei Bomben der Alliierten getroffen – möglicherweise von meinem Großvater oder seinen Freunden abgeworfen –, die nicht explodierten.) Das Deck ist mit kleinen blassgrauen Quadraten gefliest; entlang der Beckenränder verlaufen schlürfende Rinnen. Es gibt zwei Treppen, die zum sehr flachen Ende führen, und die Wasseroberfläche befindet sich einen knappen Meter unterhalb des Beckenrands, wodurch man sich im Wasser eingekesselt fühlt, wie in einem Tank. Es sind nur acht andere Schwimmer da, die meisten ziehen entspannt, aber beharrlich ihre Bahnen. Am tiefen Ende lasse ich mich zum Grund sinken und sehe mich um. Die Schwimmer gleiten ruhig über mich hinweg,meine Atemblasen steigen glitzernd auf. Ich drücke mich vom Boden ab.
    Als ich wegen eines Literaturfestivals im englischen Bath bin, besuche ich die alten römischen Bäder. Gewöhnlich finde ich jede Ruine aufregend, die mit algengrünem Wasser gefüllt ist, aber als ich an den Schaukästen und den Projektionen von »Römern«, die zu viel Mascara aufgetragen haben, vorbeischlendere, langweile ich mich. Selbst das zweitausend Jahre alte Skelett, dessen Zähne von zu viel Honig Löcher haben, berührt mich nicht. Die viktorianischen Statuen, die Ende des neunzehnten Jahrhunderts um die Terrasse herum mit Blick auf das große Freiluftbecken aufgestellt wurden, sind viel schöner als die echten römischen Skulpturen, die rohen, aber authentischen Wurzeln des Bads. Was mir wirklich gefällt, sind die römischen Fluchtafeln: winzige Wutausbrüche, in kleine Stücke Blei oder Zinn geritzt, an die Wand genagelt mit der Bitte, die Götter mögen Unglück auf die Köpfe jener niederregnen lassen, die den Verfassern, während sie badeten, die Sachen gestohlen haben. Auf einer Tafel steht:
    An Minerva die Göttin von Sulis habe ich übergeben den Dieb, der meinen Kapuzenmantel gestohlen hat, ob Sklave oder Freier, ob Mann oder Frau. Er kann die Gabe nur durch sein Blut zurückkaufen.
    Ich kann das gut nachfühlen, wenn ich an mein korallenrosa Club-Monaco-Sweatshirt denke, das mir, als ich dreizehn war, im Clarkson Pool aus der Frauenumkleide geklaut wurde. EineMinute lang hatte ich zum Club of Monaco gehört. Dann plötzlich nicht mehr. Mein Vater war sehr wütend über den Diebstahl; auf der unterkühlten Heimfahrt konnte ich im ganzen Wagen spüren, wie sehr er mein Vertrauen zu anderen Kindern missbilligte. Ich verfluchte das Mädchen, das das Sweatshirt genommen hatte.
    Über den unebenen, ursprünglichen Steinboden am Rand des Great Bath zu gehen ist interessanter; der Himmel ist bewölkt, und das trübe grüne Wasser dampft. An einer Ecke hockt
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