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back to past - zurueck zu dir

back to past - zurueck zu dir

Titel: back to past - zurueck zu dir
Autoren: Sigrid Lenz
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nach einer Weile und glaubte zu fühlen, wie Christian erstarrte.
    „Natürlich“, antwortete der schnell und räusperte sich, bevor er sich aufsetzte, Gabriels Arm, dessen Körper fast abschüttelte. „Am besten rufe ich dir ein Taxi.“
    Er drehte sich zu Gabriel um und sein Lächeln verbreiterte sich. „Und wenn du wieder einmal Zuflucht vor Wind und Wetter suchst, wir gehen nicht weg. Zwischen Dermatologie und Augenklinik, nur ein paar Hundert Meter vom Suchtzentrum findest du immer ein Dach über dem Kopf, ein Wasser, und zu Öffnungszeiten vielleicht sogar Kaffee.“ Er biss sich auf die Zunge, als habe er zu viel gesagt. „Was natürlich nicht heißt, dass du dich irgendwie verpflichtet fühlen sollst.“
    Noch während er versuchte aufzustehen, umfasste Gabriel Christians Handgelenk.
    „Ich komme auf jeden Fall“, sagte er warm. „Dass du wieder in meinem Leben aufgetaucht bist, ist … ist phänomenal.“
    Trotz des schwachen Lichtes erkannte er die Röte, die in Christians Gesicht stieg.
    „Ja.“ Christian nickte. „Absolut.“ Wandte jedoch den Blick ab, befreite seine Hand aus Gabriels Griff und bückte sich nach den auf dem Boden liegenden Kleidern. „Also dann?“
    Gabriel nickte. „Also dann.“

*

    Gabriel hielt Wort. Auch wenn es dringende Angelegenheiten zu regeln galt, auch wenn sein Apartment immer noch aussah wie eine Ansammlung von Pappkartons, aus denen er sich nach Bedarf bediente, fand er nach wenigen Tagen bereits die Zeit, das Klinikviertel bei Tageslicht zu durchqueren.
    Eine Weile stand er unschlüssig auf der anderen Seite der Straße, betrachtete das Jugendzentrum von außen, die abblätternde Farbe, die Kratzer in den Scheiben, die Klebestreifen, die das Schild mit Notfalladressen und Telefonnummern befestigten.
    Dass es allerorts an finanzieller Unterstützung fehlte, war offensichtlich und kam keineswegs überraschend. Ebenso wenig wie die Erkenntnis, dass an jedem Ort eine vergessene Gruppe Jugendlicher existierte, in der jeder für sich und jeder auf seine eigene Art um sein Überleben kämpfte. Eine verlorene Generation, zu alt, um sich gängeln und befehlen zu lassen, zu allein, um Hoffnung zu kennen, zu frustriert, um das eigene Potenzial wahrzunehmen. Widerspenstig genug, um zu offensichtliche, zu durchsichtige Hilfsangebote anzunehmen. Zu oft zurückgestoßen, um redenschwingenden Erwachsenen Glauben zu schenken.
    Fand ein Helfer Zugang und Gehör, glich dies einem übernatürlichen Phänomen, einem galaktischen Zufall, der mehr mit Glück als mit Wissen oder Talent begründet wurde.
    Gabriel biss sich auf die Lippen. Sonderlich viel Betrieb herrschte nicht. Doch ließ sich auch beileibe nicht alles erkennen, nicht von seiner Position aus. Dennoch hielt ihn eine merkwürdige Scheu zurück. Er fürchtete in eine Situation zu geraten, die ihn überforderte. Er wollte keine Dinge erfahren, die nicht für seine Ohren bestimmt waren, nicht von Schicksalen hören, auf die er doch keinen Einfluss nehmen konnte.
    Zugegeben, es hatte Jahre gedauert, bis er zumindest Teile von dem begriffen hatte, was Christians Leben offenbar immer noch prägte.
    Da war das verlotterte Haus gewesen, so nah an dem seiner Familie und doch Lichtjahre entfernt. Hinter all dem Unkraut, den herabgestürzten und vertrockneten Zweigen, den faulenden Ästen verborgen, herrschte Geschrei. Kam man näher, so vermischten sich die wütenden Stimmen, unterbrochen nur von unangenehm krachenden, klatschenden Geräuschen. Unangenehm genug, dass jeder sich rasch angewöhnte, einen Bogen um das Gebäude zu machen. Auffällig genug, dass seine Eltern ihn später, nachdem ihre anfänglich blauäugige Begeisterung für die familienfreundliche Umgebung der Realität gewichen war, mit Händen, Füßen und unter Aufbietung ihrer rhetorischen Fähigkeiten von Christian fernzuhalten suchten. Gedauert hatte es dennoch. Gabriel hatte nie erfahren, ob sie die Puzzlestücke nicht rechtzeitig zusammensetzten oder ob sie nicht begreifen wollten, dass der Junge aus ihrer Straße, der sein Auto vor der Garage gegenüber parkte, nicht aus dem dazugehörigen Gebäude stammte. Dass der sich nicht damit amüsierte, sein wohlsituiertes und gesetzestreues Elternpaar durch eine offen zur Schau gestellte aufmüpfige Haltung aus dem Konzept zu bringen. Sondern dass er nicht das war, was er vorgab zu sein. Ohne sich die Mühe zu machen, ihren Irrtum aufzuklären.
    Selbstverständlich hatte sich auch Gabriel die Umstände erspart.
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