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Babkin, unser Väterchen

Babkin, unser Väterchen

Titel: Babkin, unser Väterchen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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Rühr dich gefälligst, du Simulant! Uns betrügst du nicht mehr! Was soll das Theater? Macht dir wohl Spaß, uns alle zu quälen und vor aller Welt lächerlich zu machen? Ha! Bist du ein Teufel – erst jetzt merke ich das! Nach über zweiunddreißig Jahren!«
    Und Pyljow sagte fast feierlich: »Beim erstenmal konntest du dich nicht rühren … Na, wie ist es jetzt? Wieder alles gelähmt? Wollen das doch mal sehen …« Er beugte sich über den armen Babkin, gab ihm eine Ohrfeige, zwickte ihn in das eiskalte Fleisch, stieß sogar die Spitze eines herumliegenden Nagels in seinen Armmuskel – Babkin rührte sich nicht.
    »Wie damals!« sagte Waninow ergriffen. »Genau wie damals. Keinen Mucks! Aber er hört und sieht alles …«
    »Nicht mehr lange, Genossen.« Pyljow krempelte die Ärmel seines Hemdes hoch. »Unter uns sind wir. Gemeinsame Leidtragende. Gemeinsam Schweigende.« Mit wilden Augen blickte er um sich, spreizte die Finger und sog pfeifend den Atem ein. »Wir werden vollenden, was die Natur nur unvollkommen begonnen hat.«
    »Was willst du tun, Boris Witalowitsch?« fragte Waninow mit seinem tiefen Baß.
    »Ihn gründlich erwürgen …«
    »Nein!« schrie Walentina hell auf. »Nein! Väterchen, wach auf! Wach schnell auf! Komm ins Leben zurück …«
    Sei es, daß Babkin keine Möglichkeit hatte, sich zu wehren, oder daß er nun wirklich tot war, oder sei es, daß er sich nach Ruhe sehnte vor dieser schrecklichen Welt – er zeigte keinerlei Regung, kein Zucken, kein Blinzeln, kein Anspannen der Muskeln.
    Steif wie eine Steinfigur lag er auf dem alten Tisch, mit gelblichem Gesicht und jetzt eingesunkenen Augäpfeln. Sein Mund war ein wenig geöffnet und zeigte die dritten Zähne, die ihm der Zahnarzt Leonid Semjonowitsch Sablin in Tobolsk eingesetzt hatte. Ein kräftiges Gebiß, Sablins beste Arbeit … Vier Wochen später war er ihm Wahnsinn gestorben. Böse Zungen behaupteten, er habe Babkins Behandlung seelisch nicht durchstehen können.
    »Später!« rief Waninow und ergriff Pyljows Hände. »Später, mein Sohn … Dazu ist noch Zeit genug. Wenn Wadim Igorowitsch morgen abend noch so knackig daliegt wie heute, kannst du es versuchen. Verändert er sich, wär's vergebliche Mühe gewesen. Man halte immer sein Gewissen rein, mein Sohn …«
    Eine halbe Stunde blieben die Babkins und Pyljow am Tisch stehen und verabschiedeten sich dann.
    »Wenn er wieder aufsteht, ohne daß wir zugegen sind«, fragte Pyljow, »was dann, Genosse Pope? Es muß gehandelt werden.«
    »Verlangt von einem Geweihten keine Untat!« rief Waninow empört. »Wie wär's, wenn ihr abwechselnd Wache bei Babkin haltet?«
    »Die Idee ist gut.« Pyljow sah seine Verwandtschaft an. »Sobald er ein Zucken von sich gibt, soll man mich rufen. Walentina, du hast die erste Wache. Dich wird Nelli ablösen. Dann wacht Mütterchen Nina bei ihm, am frühen Morgen komme ich dann selbst. Ist's so recht?«
    Alle nickten wortlos, betrachteten noch einmal Babkin, ihr Väterchen, und verließen dann die Kirche durch den Hinterausgang. Walentina blieb zurück, setzte sich neben Babkin auf einen verrotteten Stuhl, faltete die Hände im Schoß und hielt Wache. Keine Scheu plagte sie, kein Schaudern vor einer Leiche. Sie saß neben ihrem Väterchen, wußte, daß es nun wirklich tot war, und wünschte ihm den ewigen Frieden.
    Die Nacht wurde ziemlich unruhig in der Kirche.
    Zunächst erschien gegen zwei Uhr morgens der Bürgermeister von Ulorjansk, der Genosse und Parteifunktionär Blistschenkow, eingehüllt in einen schwarzen Umhang, als habe er den Film ›Zorro‹ gesehen, der natürlich in der Sowjetunion nie laufen würde, und sah sich Babkin genau an.
    Waninow, der ihn begleitete und genau wußte, daß er auf seinen Schlaf verzichten mußte, denn Blistschenkow würde nicht der letzte Besucher sein, nickte schwer.
    »Es ist kaum zu glauben, Guri Jakowlewitsch«, sagte er. »Wir wissen uns keinen Rat.«
    »Was sagt Dr. Poscharskij?«
    »Er weigert sich, eine Diagnose zu stellen und den Totenschein auszuschreiben.«
    »Ist er der einzige Arzt in Ulorjansk? Vier Ärzte haben wir hier außer Bairam Julianowitsch. Welche Phantasielosigkeit! Ich lasse sofort Dr. Bereschkow rufen, er wird das Papier unterzeichnen … und morgen mittag ist Babkin unter der Erde.«
    »Und wenn er noch lebt?«
    »Davon kann er uns dann keine Kunde mehr geben.«
    »Das ist Mord, Genosse Bürgermeister.«
    »Mord?« Blistschenkow hob die Stimme. »Wir haben einen amtlichen
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