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Australien 02 - Der Sternenleser

Australien 02 - Der Sternenleser

Titel: Australien 02 - Der Sternenleser
Autoren: Kate Grenville
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nie ins Gesicht sahen, selbst wenn sie in den engen Gassen dicht an ihnen vorüberkamen. Es musste etwas sein, das ihnen beigebracht worden war: Schau einem Weißen niemals ins Gesicht! Ihre eigenen Gesichtszüge waren exotisch, kräftig, wie aus einem stärkeren Material geschnitzt als dem faden Teig, aus dem die englischen Gesichter bestanden.
    Aber er wagte nicht, zu genau hinzusehen.
    Nun, da er durch eigene Anschauung ein System kennenlernte, in dem ein Mensch gekauft und besessen werden konnte wie ein Pferd oder eine goldene Uhr, kam Rooke zu dem Schluss, dass Lancelot Percivals Theorien über den Untergang des Britischen Weltreichs nicht überzeugend waren. Die Sklaven sahen zwar äußerst fremdartig aus, das Leben, das sie führten, war unvorstellbar, doch sie redeten und bewegten sich nicht anders als er selbst. Die Sprache, die er da eben gehört hatte, bestand für ihn aus Tönen, deren Bedeutung ihm verborgen blieb, doch es war eine Sprache, die diese Menschen genauso miteinander verband wie seine eigene ihn selbst mit seinen Landsleuten.
    Er wusste noch immer nicht, wie er Lancelot Percivals Logik bezüglich des Untergangs des Britischen Weltreichs widerlegen sollte, doch nachdem er die Sklaven nun mit eigenen Augen gesehen hatte, war ihm eines klar: Sie waren nicht das Gleiche wie ein Pferd oder eine goldene Uhr.
    Silk schritt weiter den Hügel hinter dem Hafen hinauf und über einen schmalen Pfad in ein Dorf mit primitiven Hütten, vor denen Hühner herumpickten und lahmende Hunde die Männer in den roten Jacken ankläfften. Am Ende der letzten steinigen Gasse klopfte er entschlossen an eine Tür.
    Die Frau, die Rooke zugeteilt wurde – füllig, hübsch, mit dunkelbrauner Haut und roten Lippen –, musterte ihn, während er verschämt die Hosen herunterließ. Nie vergaß er ihr wissendes und amüsiertes Gesicht, als sie ausrief: »Junge, Junge, du bist ja ausgestattet wie ein verdammter Gaul!«
    Newtons Infinitesimalrechnung, die Monddistanzmethode zur Bestimmung des Längengrads und diese andere Sache: Es war eine persönliche Bestätigung für ihn, dass er zumindest in einigen Dingen ein Naturtalent war.
    Das Leben in Seiner Majestät Diensten spulte sich Tag für Tag in einem Gleichmaß ab, das nicht erkennen ließ, dass es jemals enden würde. Der Dienst verlieh seinem Leben eine Form, erlaubte ihm, mit Messinggeräten und Zahlen herumzuspielen, und bessere Kameraden als dort würde er aller Voraussicht nach nie finden. Als er an den Jungen zurückdachte, der am Strand unterhalb des Round Tower seine Kiesel gezählt hatte, wurde ihm bewusst, dass er, entgegen aller Erwartungen, ein Leben gefunden hatte.


    W ie alle anderen hatte auch er den Eid abgelegt. Die rechte Hand zu heben und zu schwören, dass er dienen und gehorchen werde, war einfach. Das waren nichts als Worte.
    Doch in den endlosen Stunden eines langen heißen Nachmittags auf den Befestigungsanlagen des Englischen Hafens erfuhr er, wohin diese großartigen Worte führen konnten. Einige Offiziere der Renegade hatten nicht gedient und gehorcht. Sie hatten sich nicht direkt aufgelehnt, hatten keine Meuterei angezettelt, sondern nur darüber gesprochen. Doch Rooke wurde vor Augen geführt, dass bloße Worte Macht über Leben und Tod haben konnten. Der Rädelsführer – ein Marineleutnant wie er selbst – wurde gehängt. Als ihm der Sack über den Kopf gestülpt wurde, öffnete er den Mund, als wolle er noch etwas sagen. Sämtlichen Zuschauern stockte der Atem. Dann ertönte ein Schrei, die Falltür öffnete sich, und der Mann baumelte am Strick. Als er sich in die Hosen schiss, zog der Gestank zur Zuschauermenge hinüber. Rooke roch es und vernahm das unruhige Rascheln unter den anderen, als auch sie es rochen.
    Mit aller Kraft wünschte sich Rooke das Ende dieses qualvollen Zappelns herbei. Er konnte den Blick nicht abwenden, weil er das Gefühl hatte, daran Anteil nehmen zu müssen. Wenn er wegsah, würde der arme Kerl womöglich ewig weiterzucken. Eine Hand des Mannes hatte sich halb aus der Fesselung befreit, und während sein Körper sich am Strick hin und her drehte, sah Rooke, wie die Hand sich abwechselnd öffnete und schloss.
    Als der Leutnant nur noch ein Sack Fleisch in Kleidern war und sein Kopf zur Seite kippte, stießen die Zuschauenden einen tiefen Seufzer aus. Rooke versuchte Luft zu holen, doch ein Schauder drang tief aus seinem Inneren empor, und er hörte sich selbst stöhnen.
    Die beiden anderen Männer, ebenfalls
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