Australien 02 - Der Sternenleser
und hielt seine Hand auf der Bettdecke zwischen ihren beiden Händen. Der Schmerz in seinem Schädel und die Erinnerung an das Donnern der Kanonen wollten einfach nicht vergehen, und Annes Hand, die sanft die seine hielt, war das Einzige, was ihn davon abhielt, sich davonzustehlen.
Als er schließlich so weit genesen war, dass er das Bett verlassen konnte, wurde es ihm im Haus zu stickig und zu eng, und er fing an, Spaziergänge zu machen. Langsam und mit wankenden Schritten ging er durch die Gassen und verwinkelten Straßen der Stadt. Er nahm niemals denselben Weg nach Hause, machte weite Bögen, statt dieselbe Strecke zurückzugehen. Er brauchte das Gefühl, fort zu sein.
Die meisten Spaziergänge führten ihn dorthin, wo sie ihn auch in seiner Kindheit hingeführt hatten, zu den Befestigungswällen, wo sich der Eingang zum Hafen verengte. Wie ein alter Mann stieg er jetzt vorsichtig Schritt für Schritt neben dem Round Tower hinunter.
Als er das erste Mal wieder dorthin gekommen war, hatte er nach seiner Kieselsammlung gesucht. Ihm war zwar klar, dass sie nach einer Zeit von über zehn Jahren nicht mehr da sein konnte, doch als er sich bückte, um in das Loch in der Mauer zu schauen, und feststellen musste, dass es leer war, stiegen Tränen in ihm auf. Es musste an der Verletzung liegen, mutmaßte er, dass er das Gefühl hatte, alles verloren zu haben, und es zu spät war, um es wiederzufinden.
Der Strand war unverändert, und Rooke hatte ihn wie früher für sich allein. Er setzte sich auf die kalten, vom Meer rund geschliffenen Steine, betrachtete den Himmel, das Wasser. Flache Wellen wölbten sich auf, glitzerten in der milchigen Sonne, eine glatte, gespannte Oberfläche, die über die Kiesel rann und sich auf ihnen zerteilte, sie dunkel färbte und sich dann glucksend zurückzog.
Draußen in Richtung der Motherbank und der Isle of Wight hing zwischen den Wolken und dem Meer oft ein strahlend weißer Streifen, der sich leuchtend gegen das dunkle Wasser abhob.
Rookes Leben war in einem Schwebezustand wie ein Körnchen Staub in einem Wasserglas. Er hing in einem kalten, öden Raum. Er hatte geglaubt, er werde eine Zukunft finden, hatte eine Zeit lang sogar eine gefunden, die ihm neckisch zugezwinkert hatte. Jetzt war nichts mehr da, nur die Schmerzen in seinem Kopf und in seinem Herzen, das in die widerwärtigen Eingeweide des Lebens geblickt und das Böse dort gerochen hatte.
Die Luft strömte hin und her, das Wasser kam herein und zog sich wieder zurück, wie das durch den Einfluss des Mondes schon immer gewesen war, seit es Luft und Wasser gab, und wie es weiterhin sein würde, solange Luft und Wasser existierten. Während er dort auf den Steinen saß und langsam steif wurde, ließen die Schmerzen in seinem Kopf nach. Eine wohltuende Trance umfing ihn, in der die Zeit einfach verstreichen konnte.
Er hatte sich an einen engen, trockenen Ort in sich selbst zurückgezogen, wie eine oberhalb der Wasserlinie klebende Strandschnecke. Es genügte zuzusehen, wie die Wellen sich aufwölbten und brachen und sich der leuchtende Lichtstreifen in der Ferne zu einer schmalen Linie über dem Horizont zusammenzog.
Ein Nebelbausch schwebte langsam übers Meer herein, der Abend senkte sich leise über die Stadt in seinem Rücken herab. Er zwang sich aufzustehen und ging durch die dunkelnden Straßen zurück zu dem engen Wohnzimmer und der Dachkammer, die nun seine Welt waren.
✳
Zwei Jahre nach jenem Tag an Bord der Resolution , an den er sich nicht erinnern wollte, endete der Krieg. Enden war das Wort, das die Leute gebrauchten, doch jedermann wusste, dass eigentlich verloren gemeint war. Dieser bunt zusammengewürfelte Haufen barfüßiger Rebellen hatte es doch tatsächlich geschafft, die Macht von Seiner Majestät König Georg dem Dritten zu brechen. Das war eine Demütigung, die man einfach nicht beim Namen nennen konnte. Die Soldaten und die Matrosen des Königs wussten nicht, wie sie ihr Leben im Schatten des unausgesprochenen Wortes Niederlage weiterführen sollten.
Als er eines Tages in der Nähe des Hard im Hafen von Portsmouth Silk begegnete, nahm Rooke bei seinem Freund eine Veränderung wahr. Zwar konnte er einen nach wie vor mit irgendeinem Unsinn zum Lachen bringen, wenn er zum Beispiel von dem Tag erzählte, als er im Royal Oak seine Kappe hatte liegen lassen. Doch etwas in ihm war von der Niederlage und dem, was er gesehen hatte, überschattet. Und von dem halben Leben bei halbem Sold, für das er
Weitere Kostenlose Bücher