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Außer sich: Roman (German Edition)

Außer sich: Roman (German Edition)

Titel: Außer sich: Roman (German Edition)
Autoren: Ursula Fricker
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plötzlich schlechter gehen, müssten wir handeln. Der Verkehr lief flüssig, wir kamen gut voran.
    Finowfurt. Ob Thomas mit seiner Avenir wohl auch durch den Finowkanal geschippert war? Soviel ich wusste, war selbst dieser schmale Kanal mit den großen Gewässern der Welt verbunden. Wir hatten vergessen, Thomas zu fragen, wie er eigentlich von Südfrankreich nach Berlin gekommen war. Auf dem Rhein bis in die Nordsee, die Elbe runter, Oder-Havel-Kanal, Mittellandkanal. Oder über die Donau? Auch ist es ja wohl leichter, mit dem Fluss zu fahren, statt gegen ihn. Sebastian? Ja? Hast du dir je überlegt, wie man mit einem Schiff von Südfrankreich nach Berlin kommt? Thomas, weißt du.
    Keine Ahnung.
    Hm.
    Und die Schleusen nicht vergessen.
    Knapp zwei Monate war Thomas unterwegs gewesen. Er hatte die Avenir jedenfalls heil nach Berlin gebracht, oder sie ihn. Wie mans nimmt. Sie lag im Oktober, pünktlich zum Semesterbeginn, in Grünau. Der Liegeplatz gehörte zu einem kleinen Ruderverein am Langen See. Wie eine alte Bekannte begrüßten wir das Schiff, als wir Thomas an einem Herbsttag besuchten. Der weiße Rumpf hatte Algen angesetzt, war da und dort zerschrammt. Das tat ihrer gemütlichen Schönheit jedoch keinen Abbruch, im Gegenteil. Die Avenir war ja keine hochnäsige, windschnittige Jacht, sondern ein ordinäres Fischerboot mit starker, breiter Brust. Wir setzten uns an Deck. Tags zuvor hatte Thomas Kleider und Bücher aus seinem möblierten Zimmer geholt und wohnte jetzt ganz auf dem Schiff. Um uns war nicht der Süden, sondern bewaldetes Seeufer, brackiges Wasser, keine Grillen, keine ekelhaften Mücken, kein offener Himmel, nirgends ein Leuchtturm. Dafür Fluglärm vom nahe gelegenen Flughafen Schönefeld. Autobahnlärm.
    Thomas hatte extra Muscheln besorgt, die, wie ich fand, noch widerwärtiger schmeckten als in Südfrankreich. Der Fluglärm wurde weniger in der Nacht und nahm gegen Morgen wieder zu. Es wurde feucht vom Tau und wir kuschelten uns in Wolldecken. Im Wintersemester stand ein Wettbewerb an und wir sprachen darüber. Je betrunkener wir wurden, desto größere Worte nahmen wir in den Mund. Inspirationen, Innovationen, Visionen. Wir fühlten uns als Gestalter menschlicher Verhältnisse, angetreten, die Welt zu verbessern. Wir wollten uns keine Zukunft als Angestellte in großen Büros ausmalen, als Teilchen eines Betriebs, der allzu leicht auch ohne unsere Ideen auskäme. Ich fragte Thomas, warum er eigentlich keine Freundin habe. Er sagte, er könne sich eine feste Beziehung einfach nicht vorstellen. Affären ja, aber so wie wir? So viele Kompromisse. Wir blickten uns an und dachten, dass wir gar nicht viele Kompromisse machten. Das denkt jeder, sagte Thomas. Wir lachten. Du willst gehen und sie will bleiben, was macht man da, wer gibt nach? Wenn es uns hier nicht mehr gefällt, fahren wir woanders hin. Ich und meine Avenir. Das ist ja das Schöne an einem Boot, man lichtet den Anker und tschüss.
    Ihr müsst eben beide das Gleiche wollen, warf ich ein. Oder du gibst nach und bleibst hier, sagte Sebastian. Tja, sagte Thomas und runzelte die Stirn. Sebastian wurde immer schweigsamer. Ab und zu stellte er noch eine Frage, aber es schien mir, die Antwort interessiere ihn eigentlich gar nicht. Das ärgerte mich. So kannte ich ihn nicht. Als wir mit der S-Bahn nach Hause fuhren, wurde es schon hell. Gehen wir zu dir? Ich wohnte damals mit Jana zusammen, er hatte eine eigene Wohnung, und so gingen wir zu ihm.
    Im Frühling des nächsten Jahres löste Thomas die Leinen und tuckerte davon. Grußlos. Eine Woche lang war er nicht zur Uni gekommen. Sebastian und ich machten uns Sorgen, dachten, er liege vielleicht krank in seiner Koje. Wir fuhren nach Grünau. Die Stelle, an der die Avenir gelegen hatte, war leer, nichts dort erinnerte an Thomas, nicht einmal Abfall, keine Zigarettenkippen, nichts. Vermutlich hatte er endlich von seiner latenten Freiheit Gebrauch gemacht. Nicht nur denken, man könnte gehen, es auch tun. Ich war sauer. Thomas war dank seines Vaters finanziell unabhängig. Neid? Gedankenlos konnte er sich jede Freiheit leisten oder das, was er unter Freiheit verstand. Freunde verlassen. Sich als Desperado aufführen. Wenigstens hätte er sich verabschieden können. Monate später bekam ich eine Postkarte aus Nordafrika. Nicht böse sein, bat er. Es ginge ihnen (ihm und dem Schiff?) gut, ich solle Sebastian und die anderen grüßen.
    Welche anderen?
    Wozu?
    Was meinst du, wo Thomas jetzt ist?
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