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Außer sich: Roman (German Edition)

Außer sich: Roman (German Edition)

Titel: Außer sich: Roman (German Edition)
Autoren: Ursula Fricker
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Ganz vorne fuhren die ersten an. Motor um Motor wurde gestartet. Zäh kam die Kolonne in Fluss, zog sich etwas auseinander. Wahrscheinlich hatten sie erst eine Spur freigegeben. Die Bewegung stoppte abrupt, ein Hindernis auf der rechten Spur. Hupen. Jemand war nicht losgefahren! Ich rannte schon. War Sebastian vielleicht doch ausgestiegen, weggegangen? Ich glaube, ich bin noch nie in meinem Leben so gerannt. Ich achtete auf keine Gefahr. Der hinter uns hupte und hupte und versuchte vorbeizudrängeln. Aber das ging nicht, weil alle Spuren dicht waren. Bastian!
    Sebastian saß so, wie ich ihn verlassen hatte. Angeschnallt. Er saß ruhig und friedlich, den Kopf an die Nackenstütze gelehnt. Beide Hände im Schoß, die Handflächen nach oben. Er saß da wie ein Toter. Als ich ihn anfasste, zu wecken versuchte, rutschte sein Kopf zur Seite, schlug mit der Stirn an die Scheibe.
    Bastian!
    Ich schüttelte ihn, schlug ihm ins Gesicht. Ich nahm seine Hand, tastete nach dem Puls. Ich war mir nicht sicher, ob ich nicht nur meinen eigenen, rasenden Herzschlag in den Fingerspitzen spürte.
    Bastian, wach auf!
    Sie hupten. Arschlöcher, verfluchte.
    Ich fummelte das Handy aus der Tasche. Ich versuchte die Tasten zu entsperren. Ich drückte falsch. Meine Finger waren zu dick. Meine Finger waren zu feucht, drückten zu stark, nicht stark genug, nicht schnell genug.
    Dann ging es.
    Ich wählte einseinszwei.
    Machte die Warnblinker an.
    Eine Stimme am anderen Ende. Ganz ruhig, sagte die Stimme, ganz ruhig.
    Sie hupten.
    Ich stammelte, ich stotterte, ich versuchte ganz ruhig zu sagen, was passiert war.
    Ich wusste nicht, wo wir waren. Ich sagte, hier war eben ein Unfall. Wir sind dort, wo eben der Unfall war.
    Schaffen Sie es, fragte die Stimme, bis zur nächsten Ausfahrt? Es ist nicht weit.
    Nicht weit. Schaffe ich das?
    Glaub schon.
    Ich fuhr los. Mit der rechten Hand hielt ich Sebastians Hand. Vorbei an der Unfallstelle. Kurz dahinter blaues Schild, Ausfahrt.
    Ich stand am Straßenrand und wartete. Wartete. Wenn sie uns nun vergessen hatten? Wenn sie nicht begriffen hatten, wie dringend es war, sich zu viel Zeit ließen? Dann hörte ich einen Hubschrauber. Ich rannte auf die Wiese neben der Straße und winkte. Sie sahen mich, sahen sie mich? Der Flugkörper senkte sich allmählich tiefer, tiefer. Grob kämmte der Rotorenwind Gras, Gesträuch, Haare, setzte neben uns auf. Gleichzeitig kam blaulichternd auch noch ein Rettungswagen an.
    Hunthessvier, sagte der Arzt und sah mich an. Als ob ich wissen müsste, was das bedeutet, als ob ich schuld an diesem Hunthessvier sei. Er schob Sebastian einen Schlauch in den Mund, er sagte, drin, sagte, blocken. Geblockt, sagte jemand anderes. Er legte am Arm einen Zugang für den Tropf. Was heißt das, fragte ich. Was ist das, Hunthess? Hitzschlag? Der Stau, keine Klimaanlage. Sebastian sah jetzt irgendwie anders aus, ich konnte nicht genau sagen, wie anders, älter. Als hätten sie ihm eine Greisenmaske übergezogen. Kann man schon etwas sagen, fragte ich. Ich bin hysterisch, dachte ich gleichzeitig. Du bist hysterisch! Sonst in schwierigen Situationen bin ich die Ruhe selbst. Jetzt nicht. Sie haben ganz recht zu schweigen. Eine hysterische Ehefrau kann hier wirklich keiner gebrauchen. Der Arzt achtete nicht auf mich. Ich biss mir auf die Lippen, ich biss mir auf die Knöchel am Finger. Ich wusste nicht, wohin mit mir, stand herum, nutzlos, während sie Sebastian für den Transport fertig machten. Kreislaufstabil, sagte der Arzt, Abflug, los.
    Ich war fest entschlossen, mit einzusteigen. Aber sie ließen mich nicht. Ein Sanitäter hielt mich zurück. Ich stieß ihn weg, ich musste mit, ich konnte ihn doch nicht so allein gehen lassen. Sie wollten Sebastian mit in den Himmel nehmen und mich auf der Erde zurücklassen! Durften die das? Sie schlossen die Luke. Der Sanitäter stand hinter mir. Wir dürfen nicht nur, wir müssen, sagte er, Vorschrift. Die Rotoren begannen sich schneller zu drehen, dröhnen, hämmern, wie an einer Schnur in die Höhe gezogen hoben sie ab.
    Zurück auf die Autobahn. Zurück nach Berlin. Hundertachtzig, zweihundert. Wenig Verkehr, alle fuhren sie ja nach Norden, nicht nach Süden. Obwohl ich es längst aus den Augen verloren hatte, versuchte ich, das Himmelsgefährt einzuholen. Ich schwitzte, ich fror. Ich wusste nicht, was geschehen war, ich wusste nicht einmal, ob er überleben würde. Bastian, murmelte ich, Bastian! Hörst du mich? Mir gingen die Worte aus. Nichts mehr
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