Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Außer sich: Roman (German Edition)

Außer sich: Roman (German Edition)

Titel: Außer sich: Roman (German Edition)
Autoren: Ursula Fricker
Vom Netzwerk:
würde ihn zu mir zurückholen, mit Zärtlichkeit und Liebe, mit Stimme, mit Musik, mit allem, was ich hatte. So schnell kamen die Gedanken, so naiv.
    Achtzig Prozent bei
dem
Fisher Grade, sagte Doktor Manke, überleben nicht.
    Der Doktor war um die fünfzig und trug unter dem Kittel ein hellblaues Hemd mit Krawatte. Ich starrte auf seinen Hals, der, wie seine Hände, ziemlich faltig war und gebräunt. Das fiel mir auf. Gebräunt. Gelblich. Doktor Manke war auf dem Sprung. Es käme gleich noch ein Notfall, sagte er. In der Hand knetete er nervös das Telefon. Der Notfall, der gleich kommen sollte, setzte mich unter Druck. Und der Piepser, der alle paar Minuten piepste, die Mails, die sich mit einem metallischen Scheppern auf dem Bildschirm öffneten.
    Was heißt das, bei
dem
Fisher Grade?
    Also, sagte er, Fehlbildung eines arteriellen Gefäßes, eine zu schwache, zu dünne Wand. Hält dem Druck des Blutes irgendwann nicht mehr stand. Die Wand zerdehnt, ausgestülpt, so ein kleiner Blutballon im Hirn, platzt früher oder später. Ein Strickfehler, sagen wir immer, ein Konstruktionsmangel. Dazu die üblichen Risikofaktoren, hoher Blutdruck, Übergewicht, Stress, Rauchen. Oder auch nicht. So oder so. Manke würde gleich weggerufen werden. Ich war darauf gefasst. Hätte man das nicht schon viel früher merken müssen? Sebastian ist nie zum Arzt gegangen. Jemand, der so gesund war. Er war sonst immer gesund, sagte ich. Als müsse ich mich für Sebastian entschuldigen, der nie zum Arzt gegangen war. Und er hat auch nicht geraucht. Und nur wenig Alkohol getrunken. Er hat oft Kopfschmerzen gehabt, sagte ich. Wir haben es immer auf den Nacken geschoben, auf Verspannungen. Man hätte das doch merken müssen, dachte ich, vor so etwas muss der Körper einen doch warnen! Haben wir deutliche Zeichen übersehen, fatale Fehler gemacht? Ein Tribunal, die Urteilsverkündung für ein Vergehen, das niemals wiedergutzumachen ist.
    Machen Sie sich keine Vorwürfe, sagte Manke lapidar. Er verstehe das, aber es sei vollkommen irrational.
    Ich dachte an Mutters Hokuspokus. Mutter glaubte an allerlei alternativen Kram. An Geistheilung und Schamanismus. Ein Kuddelmuddel unterschiedlichster Heilsversprechen. Seltsam. Sosehr ich mich darüber oft lustig gemacht hatte, so optimistisch war ich jetzt einen Moment lang. Ganz sicher, ganz bestimmt würde irgendein Zauber ihm helfen! Farb- oder Dufttherapie. Rohkost oder Handauflegen. Etwas, an das kein vernünftiger Mensch glauben würde.
    Doktor Manke ging zum Leuchtkasten, knipste ihn an. Dort hingen die Beweise. Hirnbilder. Selbst als Laie sah ich schon von Weitem: Etwas war mit diesem Gehirn ganz und gar nicht in Ordnung. Verschattungen, Flocken, Wolken. Fisher Grade drei, sagte Manke. Ah, jetzt kamen wir wieder zu diesem Fisher Grade. Eine Zuteilung, eine Einteilung für den Grad der Schwere. Für das Gewicht der zerschlagenen Träume. Man musste ja wissen, womit man es zu tun hatte. Hier in diesen Regionen säßen die höheren kognitiven Funktionen, sagte Manke. Das Bewusstsein, die Identität, die Seele, aber das seien eher philosophische Begriffe, keine medizinischen. Sie seien dabei, das Coiling vorzubereiten. Beim Coiling werde ein Platinfaden über die Leistenvene ins Hirn geschoben, bis in diesen Ballon hinein. Manke hatte einen medizinischen Atlas aufgeschlagen. Darin waren die Hirngefäße schön saftig kirschrot koloriert. Eine ballonartige Aussackung zeigte das Aneurysma. Unser Faden also, und so weiter. Steht unter Strom. Knipsen wir den Strom aus, und so weiter. Knäuelt sich im Ballon zusammen, definitiv heilende Therapie, et cetera. Manke nickte. Zog die Stirn kraus. Heilend allerdings nur im Bezug auf das Aneurysma beziehungsweise Rezidivblutungen, die wir somit vermeiden, fügte er hinzu, nicht im Bezug auf Schäden, die bereits entstanden sind. Ich nahm die sorgfältig unterdrückte Begeisterung in seiner Stimme wahr. Für das neurochirurgisch Machbare. Für die Genialität einer Methode wie das Coiling. Jedenfalls Glück gehabt, sagte er, das Problem sei günstig lokalisiert. Keine Operation am offenen Gehirn. Das sei immer ein zusätzliches Risiko.
    Was ging mich das eigentlich an?
    Mir war übel.
    Ich wollte nichts von alldem wissen.
    Ich wollte die Zusammenhänge im Dunkeln lassen. Dort, wo sie ihr unerklärliches Gleichgewicht momentan scheinbar zwar verloren hatten, aber jederzeit wiederfinden konnten, dachte ich, glaubte ich. Man durfte das Gefüge nur nicht ans Licht
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher