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Außer sich: Roman (German Edition)

Außer sich: Roman (German Edition)

Titel: Außer sich: Roman (German Edition)
Autoren: Ursula Fricker
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schlief gleich wieder ein. Disteln. Mannshoch. Schöne violettfarbene Blüten. Südland. Thomas hatte so von Les Onglous geschwärmt. Er hatte uns mitgenommen auf seine Reise schon im tiefen Winter in Berlin. Die eisigen Böen am Alex waren für uns Passatwinde gewesen.
    Hey ihr! Aufwachen!
    Der Leuchtturm hatte seine Lampen angezündet. Thomas stand auf dem Pier. Wo sind wir? Kommt, Abendessen. Zirpen von Grillen über allem. Kommt schon! Wir standen auf und waren ganz blöde im Kopf von der Sonne. Folgten Thomas zum Schiff. Flache Steinhäuser linker Hand. Kleine Segelschiffe, eins hinter dem anderen, tanzten auf und ab. Ganz am Ende lag die Avenir. Thomas hatte auf Deck ein Picknick vorbereitet. Kerzen flackerten. Millionen von winzigen, weißen Mücken drängten zum Licht. Zum ersten Mal in meinem Leben aß ich Muscheln. Ich fand sie ekelhaft. Thomas sagte, er habe am Nachmittag mit Berlin telefoniert. Es käme niemand mehr. Die Grillen zirpten. Schaffst du das denn, ohne die anderen? Thomas zuckte mit den Schultern. Schaun wir mal, sagte er, ihr seid ja da. Die Mücken wurden mit zunehmender Dunkelheit weniger. Sebastian ging früh schlafen, er habe solche Kopfschmerzen.
    Ich fragte mich, ob der Avenir in Berliner Gewässern etwas fehlen würde. Kann man, im Süden groß geworden, auch im Norden glücklich sein? Schiffe, dachte ich, sind ja nicht wirklich Schiffe, unbelebte Gefährte. Schiffe sind gut für Wunder, Schiffe haben eine Seele, sagt man, warum sonst tragen sie Namen wie Victory oder Flying Cloud, Hope oder Avenir. Man lebt oder stirbt auf ihnen. Etwas Halbes gibt es da nicht. Man vertraut sich ihnen an. Planken unter den Füßen und nur das. Planken. In der Hoffnung, der Rumpf halte den Brechern stand.
    Wir lagen auf Deck in unseren Schlafsäcken, hörten der Nacht zu, der leise hämmernden Discomusik, die von Cap d’Agde herüberwehte. Lichtfinger zerschnitten den Himmel. Der Mond stand fast voll. Mit bloßem Auge zu erkennen die kalkweißen Krater und Ebenen, die Meere ohne Wasser. Thomas saß lange noch vorne im Bug, uns den Rücken zugewandt. Augen zu. Schläfst du schon? Sanftes Schaukeln des Kutters, rhythmisches Quietschen der Fender, an denen der Schiffskörper sich rieb. Du?
    Wir blieben die ganze Zeit in Les Onglous. Wir arbeiteten drei Wochen lang von morgens bis abends. Wir kauerten auf schmalen, von Seilen gehaltenen Brettern an der Bordwand und kalfaterten die Nähte zwischen den Planken neu. Thomas zeigte uns, wie tief der Werg eingeschlagen werden musste. Wir vergossen das Ganze mit Pech, und als Letztes kam die Farbe. Die Wasserlinie strichen wir rot, den Rest weiß. Ich durfte den Namen malen: Avenir.
    Noch Kaffee? Sebastian nickte. Er rückte mit seinem Stuhl ein Stück nach links, dem Schatten nach. Im Sommer fiel ihm alles schwerer, und sobald im Herbst die Temperaturen sanken und Stürme übers Land fegten, volle Kraft voraus. Als würde er eine Art Sommerschlaf halten, den Stoffwechsel auf das Allernötigste reduziert.
    Mit Jana hatte ich knapp zwei Jahre zusammengewohnt. Sie war Puppenspielerin, sie konnte aus jedem beliebigen Fetzen Stoff ein scheinbar belebtes Wesen zaubern. Einmal, noch während ihres Studiums, besuchten wir eine Vorstellung, Szenen aus
Der Stellvertreter
, es war Janas Zwischenprüfung gewesen. Sebastian wollte nach der Hälfte gehen, er halte das nicht aus, warum, hatte er nicht gesagt. Bastian, das kannst du nicht machen, reiß dich zusammen! Ich überredete ihn zum Bleiben. Anschließend war er den ganzen Abend lang sauer gewesen. Später, als sie schon eine kleine Familie waren, kauften Jana und Bernd oben im Norden spottbillig einen Bauernhof und renovierten das alte Gemäuer in jahrelanger Arbeit selbst. Die Kinder in der freien Natur aufwachsen lassen, das hatte Jana immer gewollt. Zugegeben, es war schön dort, es war ein mecklenburgisches Bullerbü.
    Vor ein paar Wochen hatte mich Sebastian gefragt, ob ich mir nicht doch vorstellen könne, Kinder zu haben. Nachdem wir seit Jahren nicht mehr über Kinder gesprochen hatten. Ich glaubte, das Thema sei erledigt, ich dachte, wir seien uns einig. Auf einem Abendspaziergang durch den Park sagte er so wie nebenbei, er könne sich gut vorstellen, mit mir ein Kind zu haben. Was? Wie? Ich blieb stehen. Damit hatte ich nun gar nicht gerechnet. Warum er jetzt plötzlich damit wieder anfange? Er zuckte die Schultern. Außerdem bin ich zu alt, sagte ich, oder wärs dir egal, ein behindertes Kind zu bekommen?
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