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Ausser Dienst - Eine Bilanz

Titel: Ausser Dienst - Eine Bilanz
Autoren: Helmut Schmidt
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vergleichen. Diese Einsicht hat dazu beigetragen, daß ich auch später, nach dem Ausscheiden aus öffentlichen Ämtern, noch vieles gelernt habe und manchmal besser über die Welt informiert war, als ich es während meiner aktiven Zeit gewesen bin. Der Terminkalender eines Bundeskanzlers oder auch eines Bundesministers läßt nur wenig Zeit für die Vorbereitung auf den jeweils nächsten Termin. Man wird von morgens um neun bis nachts um zwölf von einem Gespräch zum anderen gehetzt und muß sich im Laufe eines Tages mit sechs, sieben, acht verschiedenen Partnern über völlig verschiedene Themen unterhalten. Zwischendrin muß man mal eben in den Bundestag und eine kleine Rede halten. Man ist angewiesen auf die Briefings durch die Mitarbeiter und hat nur selten Gelegenheit, sich über die Dossiers hinaus eigene Informationen zu beschaffen. Einen Großteil seiner Zeit verbringt man unterwegs, oft im Flugzeug, was aufgrund der unterschiedlichen Zeitzonen eine zusätzliche Belastung bedeutet.
    Heute habe ich sehr viel mehr Zeit. Das ist ein Grund, weshalb ich mich oft besser unterrichtet fühle als früher: Wer Zeit hat, Dinge aufzunehmen und zu verarbeiten, erweitert seinen Horizont. Der andere Grund ist: Das Spektrum der Menschen, mit denen ich mich unterhalte, ist sehr viel breiter geworden. Zwar habe ich mir auch im Amt die Gesprächspartner selbst ausgesucht und sie mir nicht vom Auswärtigen Amt oder sonstwem vorschreiben lassen, aber viele Termine waren durch das Amt vorgegeben und gar nicht zu umgehen. Heute kann ich mir meine Gesprächspartner nach eigenen Interessen und Vorlieben auswählen. Hinzu kommt nicht zuletzt, daß ich älter geworden bin und meine Urteilskraft – wie ich hoffe – zugenommen hat. Nur durch regelmäßiges Reisen lernt man auch den rapiden Wandel verstehen, dem große Teile unserer Welt unterworfen sind. Ich habe zum Beispiel Shanghai vor dem großen Umbruch noch deutlich vor Augen; wie es aussah, wenn am späten Nachmittag Millionen Menschen zu Fuß durch die Straßen gingen. Heute fährt man mit dem Auto, sogar mit der Magnetschwebebahn durch Shanghai.
    Ein chinesisches Sprichwort sagt: «Einmal sehen ist besser als hundertmal hören.« Nach diesem Motto habe ich es mir schon früh zur Pflicht gemacht, nach meinen Reisen einen Bericht zu schreiben und diesen an das Auswärtige Amt zu schicken. Der Außenminister Gerhard Schröder interessierte sich immer dafür und bat mich nach Lektüre bisweilen zum Gespräch. Ich schrieb diese Berichte aus Schuldigkeit sowohl gegenüber dem Land, das ich gerade besucht hatte, als auch gegenüber dem Auswärtigen Amt; mein Außenminister sollte zumindest über die gleichen Informationen verfügen wie ich. Erst als Joseph Fischer ins Amt kam, habe ich diese Praxis eingestellt.
    Heutzutage hat ein jüngerer Bundestagsabgeordneter sehr viele Möglichkeiten, ins Ausland zu reisen, und ich kann jedem nur dringend empfehlen, diese zu nutzen. Ich meine nicht Urlaubsreisen, sondern Reisen zu Treffen und Konferenzen, zum Studium und zum Austausch mit Partnern aus anderen Völkern und Staaten. Wenn sich dabei auch ein Urlaubstag einschieben oder der Besuch sich mit der Besichtigung von Landschaften und Sehenswürdigkeiten kombinieren läßt, so ist das erfreulich, aber es sollte nicht zur Hauptsache werden. Viele unserer Politiker haben einen Eindruck von unseren Nachbarländern und von den USA; aber einer, der niemals China und Indien, niemals Rußland, Lateinamerika und Afrika erlebt hat, ist für seinen politischen Beruf eigentlich nicht zureichend ausgerüstet.
    Ich will in diesem Zusammenhang noch eine weitere Empfehlung für junge Politiker der nachfolgenden Generation aussprechen, muß dabei aber zugleich ein eigenes Versäumnis einräumen. Als ich es in den siebziger Jahren begriff, war es zum Nachholen des Versäumten längst zu spät. Ich spreche von dem schwerwiegenden Mangel, der französischen Sprache nicht mächtig zu sein. Mein Freund Valéry Giscard d’Estaing und ich haben immer nur englisch miteinander sprechen können; sein Deutsch war minimal, mein Französisch gleich Null. Bei Gegenständen, deren Behandlung schwierige Fachausdrücke erforderte, waren wir auf unsere Dolmetscherinnen angewiesen. Ich habe das als erhebliche Beeinträchtigung empfunden. Weil meine ansonsten vorzügliche Lichtwarkschule in Hamburg nicht allzuviel Wert auf Sprachen gelegt hatte, verfügte ich zunächst nur über Schulenglisch und über Anfangsgründe im
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