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Ausser Dienst - Eine Bilanz

Titel: Ausser Dienst - Eine Bilanz
Autoren: Helmut Schmidt
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gleicher Meinung sein. Manches von dem, was Henry Kissinger in seinen Jahren als Nixons Sicherheitsberater machte, hat mir nicht gefallen, wie umgekehrt er möglicherweise mit mir als dem damaligen deutschen Verteidigungsminister nur teilweise einverstanden war. Dennoch dauert unsere gegenseitige persönliche Hochschätzung – und ich scheue, was mein Verhältnis zu ihm betrifft, nicht das Wort Faszination – nun schon ein halbes Jahrhundert; immerhin kennen wir uns seit 1958. Mein Eindruck damals: Dieser junge Assistant Professor in Harvard, als jüdischer Deutscher geboren, hat eine stupende analytische Urteilskraft, und er hat Substanz. Das haben alsbald rasch nacheinander Nelson Rockefeller, Richard Nixon und Gerald Ford erkannt. Seit 1976 ohne öffentliches Amt, gleichwohl in der ganzen Welt als außenpolitischer Analytiker anerkannt, ist Kissinger noch immer der inoffizielle Doyen der strategischen Denker Amerikas. Von ihm habe ich viel darüber gelernt, wie anders die Welt aussieht, wenn man sie von der amerikanischen Warte aus betrachtet. Fährt man allerdings über die Grenze nach Kanada – das hat mir später mein Freund Pierre Trudeau vermittelt–, erscheint die Welt abermals anders.
    Die Welt mit den Augen der anderen zu betrachten, mit den Augen der Mitspieler und Gegenspieler – und unter dem Aspekt ihrer Interessen–, ist eine Kunst, die man nur im Gespräch mit Menschen anderer Kulturkreise erlernen kann. Das komplexe strategische Problem des Dauerkonflikts zwischen Israel und seinen arabischen Nachbarn habe ich durch den Austausch mit Nahum Goldman, Moshe Dayan, Anwar as-Sadat und König Fahd verstehen gelernt, und vielleicht verstehe ich es besser als manche Araber oder Israelis, die nur ihre eigene Sicht der Dinge kennen und wegen ihrer Vorurteile über die Gegenseite nur selten zu einem objektiven Urteil gelangen. Mein Freund Lee Kuan Yew in Singapur hat mich veranlaßt, mich wenigstens mit den Grundzügen der chinesischen Geschichte und des Konfuzianismus vertraut zu machen. Von zahlreichen Besuchen in Japan wußte ich, daß viele japanische Politiker gegenüber China unter einem kulturellen Minderwertigkeitskomplex leiden, den sie gern hinter einem betonten Nationalismus gegenüber China (und auch gegenüber Korea) verstecken; mein Freund Takeo Fukuda war in seiner offenen Haltung gegenüber China eine seltene Ausnahme. Von dem Koreaner Shin Hyon-Hwak habe ich viel über die für das koreanische Volk leidvolle Geschichte der japanischen Unterdrückung gelernt. Kontinuierlich über anderthalb Jahrzehnte sich erstreckende Gespräche mit Deng Xiaoping haben mich den Wiederaufstieg Chinas nach dem Tode Mao Zedongs besser verstehen lassen; Deng hat eine schier unglaubliche staatsmännische Leistung vollbracht – trotz der Tienanmen-Tragödie!
    Eine wesentliche Voraussetzung für den regelmäßigen Austausch mit Freunden in aller Welt ist das Reisen. Davon habe ich auch nach dem Ausscheiden aus öffentlichen Ämtern ausgiebig Gebrauch gemacht. Die Möglichkeit zu reisen besteht erst seit etwa einem halben Jahrhundert. Noch bis tief in das 20. Jahrhundert konnte nur der wirklich Wohlhabende verreisen. Es gab allerdings Ausnahmen, etwa die Wanderschaft der Handwerker, und es gab Auswanderung. Millionen Europäer sind nach Nordund nach Lateinamerika ausgewandert; sie nahmen Teile ihrer angestammten Kultur mit, aber weil die ganz anderen Lebensverhältnisse sie zur Anpassung zwangen, mußten sie manche Maßstäbe ersetzen. Einige schrieben zuweilen einen Brief an die Verwandten in der alten Heimat, der Brief brauchte viele Wochen; der Briefwechsel blieb spärlich und schlief spätestens in der zweiten Generation meist ein. Es gab weder Luftpost noch Radio, weder Fernsehen noch Internet, deshalb blieb in Europa die Kenntnis über Amerika ziemlich gering; sie beschränkte sich auf die lesenden Schichten. Mit der Ausnahme des afro-amerikanischen Jazz erstreckte sich der Einfluß der nordamerikanischen Kultur auf Europa vor dem Ersten Weltkrieg im wesentlichen auf technische Methoden der industriellen Produktion. Erst in den zwanziger Jahren, mit der rasanten Entwicklung neuer Verkehrs- und Kommunikationstechniken, weitete sich der kulturelle und der politische Einfluß der USA aus und übernahm nach dem Zweiten Weltkrieg in Europa westlich des Eisernen Vorhangs eine dominante Rolle.
    Meine Generation ist die erste gewesen, für die eine Reise auch dann denkbar wurde, wenn man nicht zur Oberschicht
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