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Ausser Dienst - Eine Bilanz

Titel: Ausser Dienst - Eine Bilanz
Autoren: Helmut Schmidt
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nicht an. Es wäre eine irreale, geradezu absurde Vorstellung, unter den Führungspersonen an der Spitze eines Staates oder auch einer Partei müßten persönliche Freundschaftsverhältnisse bestehen. Was vielmehr zählt, sind Loyalität, Solidarität, Zuverlässigkeit – das gemeinsame Ziehen am gleichen Ende des Strangs, zum gleichen Ziel und Zweck.
    Zuverlässigkeit gehört, mit gewissen Einschränkungen, auch im Umgang mit Politikern anderer Parteien zu den Grundvoraussetzungen. Auch dort traf ich Menschen, deren klare Linie ich zu schätzen wußte, darunter zwei der führenden Oppositionspolitiker der sozialliberalen Koalition, Rainer Barzel und Walther Leisler Kiep, später Richard von Weizsäcker, besonders wegen seiner bahnbrechenden Rede am 8. Mai 1985. Auch die Verläßlichkeit Wolfgang Mischnicks an der Spitze der freidemokratischen Fraktion und die Geradlinigkeit seines Parteifreundes Josef Ertl will ich hier dankbar erwähnen; auch wenn Ertl und ich bisweilen aneinandergerieten, bin ich ihm gegenüber immer bei der Anrede »Bruder Josef« geblieben, worauf er frotzelnd mit »Bruder Helmut« antwortete.
    Manchmal ist man darauf angewiesen, sich auf einen Menschen zu verlassen, den man gar nicht kennt. Wer in einem Verkehrsflugzeug sitzt, muß sich zum Beispiel auf den Piloten und die Airline verlassen. In der Regel aber verläßt man sich lieber auf Menschen, die einem vertraut sind. Ebendeshalb habe ich in großer Zahl alte Verbindungen gehalten. Das gilt für Freundschaften aus der Schulzeit, aus der Zeit als Soldat, aus der Studienzeit in den unmittelbaren Nachkriegsjahren, als ich im Hamburger SDS aktiv war; es gilt ebenso für zahlreiche Verbindungen aus der gemeinsamen politischen Arbeit, von den Anfängen in der Hamburger SPD in den vierziger und fünfziger Jahren bis in das Bonn der achtziger Jahre. Man kann sich immer noch aufeinander verlassen, selbst wenn manchmal Jahre vergehen, bis man sich wieder sieht; und man kann immer noch manches Wichtige gemeinsam zustande bringen.
    Manchen Menschen, von denen ich gelernt habe, bin ich allerdings erst nach meinem Ausscheiden aus dem Amt begegnet, viele habe ich erst außer Dienst wirklich kennengelernt. Wer eine Zeitlang im Fokus des öffentlichen Interesses stand und sich dabei ein gewisses Ansehen erworben hat, der dürfte es in der Regel leichter haben, mit jemandem bekannt zu werden und ins Gespräch zu kommen, der ihn interessiert. Menschliches Interesse, Neugier und eine gewisse geistige Beweglichkeit sind hilfreiche Voraussetzungen – der Gesprächspartner muß spüren können, daß ich aus Interesse für ihn oder für seine Sache auf ihn zugehe. Damit aus einer bloßen Bekanntschaft aber mehr wird, muß das Gespräch auch für den Partner interessant sein, er muß etwas Wissenswertes zurückbekommen. Ist erst einmal eine Basis geschaffen,werden sich beide beim nächsten Treffen sofort erinnern, dieser Mann oder diese Frau ist ernst zu nehmen und ehrlich, und sogleich mit Offenheit das Gespräch wieder aufnehmen.
    Da ich oft ungeduldig gewesen bin, bisweilen von nahezu unhöflicher Direktheit, mein Gegenüber zum Widerspruch provozierend, habe ich die Eingangsfloskeln solcher Gespräche gern abgekürzt. Bevor mein Gegenüber widersprechen konnte, mußte er nachdenken, und während er noch antwortete, dachte er weiter nach. So kann ziemlich schnell ein in die Tiefe gehendes Gespräch zustande kommen. Allerdings muß ich gestehen, daß ich mir mit meiner Entschiedenheit nicht nur Freunde gemacht habe.
    Offenheit und Respekt vor dem anderen sind entscheidende Voraussetzungen für das Entstehen einer zuverlässigen Freundschaft. Vor einigen Jahren erhielt ich einen Brief meines Freundes George Shultz, den ich 1972 kennengelernt habe, als er unter Nixon Finanzminister war. Aus Empörung über den Watergate-Skandal war er zurückgetreten und in die Industrie gegangen, 1982 berief ihn Ronald Reagan zum Außenminister. In seinem Brief kam Shultz auf eine Unterhaltung zurück, die wir einige Wochen zuvor gehabt hatten – der Anlaß ist mir entfallen–, und schrieb dann: »You are as sharp as ever.« Das war durchaus als Kompliment zu verstehen, denn auch Shultz hat stets Klartext gesprochen. Von ihm habe ich am meisten über die politische Mentalität der amerikanischen Nation gelernt. In seiner Person verkörperten sich für mich auf vorbildliche Weise drei amerikanische Tugenden: common sense, fairness und patriotism .
    Man muß nicht immer
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