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Ausnahmezustand

Ausnahmezustand

Titel: Ausnahmezustand
Autoren: Navid Kermani
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ihre Hoffnungen nicht enttäuschen.
Wieder nachts
    Vom Wetterleuchten wache ich auf. In dem Augenblick, in dem ich auf die Terrasse trete, stürzen Eisklumpen vom Himmel, wie ich es noch nie gesehen, nicht einmal für möglich gehalten habe. Erst begreife ich es nicht, springe nur unters Dach, um nicht erschlagen zu werden, dann sehe ich ein, daß es Hagel sein muß, tischtennisballgroß, und keine Apokalypse. Nach einigen Minuten bricht das Gewitter aus. Das Wasser überflutet so schnell die Terrasse, daß es im Hotelzimmer steht, obwohl ich Handtücher vor die Türritzen lege.
    Zwei Stunden später fahre ich mit dem Motorroller durch teichgroße Pfützen die menschenleere, aber hell erleuchtete Uferpromenade auf und ab, bis ich am äußersten Ende des alten Hafens Menschen vor einem französischen Kriegsschiff entdecke. Wahrscheinlich ist es zu groß für die Mole, die eigentlich für die Flüchtlingevorgesehen ist. Fünfundsechzig Somalier sind im Sturm gerettet worden, schnappe ich auf, darunter dreizehn Frauen, achtzig Seemeilen vor der libyschen Küste, eine Schwangere, fünfter Monat, ein Verletzter. Daß es ein Schiff von FRONTEX ist, das die Flüchtlinge aufgenommen hat, und so nah an der libyschen Küste, wundert die Ärzte ohne Grenzen. Genaues weiß niemand, aber alle, auch die Frau vom Flüchtlingswerk der Vereinten Nationen, meinen, daß FRONTEX dafür da ist, die Flüchtlinge von Europa abzuhalten. Wer für den italienischen Staat arbeitet, außer den Zöllnern und Carabinieri noch die Mitarbeiter des Aufnahmelagers, gibt sich durch Latexhandschuhe zu erkennen wie der Westen in Afghanistan. Aus einem Kleinlaster wird ein Kanister mit Desinfektionsmittel entladen.
    – Und die Flüchtlinge, frage ich, wo sind sie? Da der Bus noch nicht eingetroffen ist, sitzen sie im Schiffsinneren, wo sie es wärmer haben. Die Chiffre Somalier kenne ich bereits: Wahrscheinlich gehören sie einer einzigen Familie oder einem einzigen Clan an, ihre Flucht hat vor Monaten begonnen, zu Hause hatten sie Krieg, kann sein, daß sie vertrieben worden sind, bestimmt gab es Tote. Das Gegenteil von Sonntagsausflüglern. Soldaten reichen vom Deck große rote Plastiktüten, die beinah leer sind, für jeden Flüchtling eine, nehme ich an, deren Habseligkeiten. Alle auf der Mole sprechen mit gedämpfter Stimme, ob mit oder ohne Latexhandschuhe, flüstern beinah und reden überhaupt sehr wenig, stehen nur da und starren auf das erleuchtete Schiff mit den fünfundsechzig Geretteten im Bauch, als warteten sie aufs Christkind. Wenn sich jetzt alle an den Händen faßten, mit und ohne Latexhandschuhe, um ein Weihnachtslied zu singen – ich wäre nicht einmal überrascht, so dankbar bin ich für den Segen, den Rettung doch bedeutet. Dann fällt mir ein, daß ich der einzige bin, der eine solche Landung zum ersten Mal erlebt, aber ein tunesischer Übersetzer wird ebenfalls pathetisch, als ich ihn anspreche, und seine Augen glänzen. Wenn der Begriff des Märtyrers heute eine Bedeutung habe, sagt der Übersetzer, der Begriff der Zeugenschaft, wie es das arabische Wort
schahâda
genau bedeutet, dannfür sie, die im Schiffsbauch warten, um ans Licht zu treten, und für alle anderen Flüchtlinge dieser Nacht, die es nicht mehr erblicken. Sie seien die Zeugen unserer Zeit. Die Bezeichnung Martyrium trifft es allerdings auch, füge ich an. Und dann sprechen wir über Jonas und die Flüchtlinge in den Heiligen Büchern, über Maria, Josef und das Jesuskind, und ich sage, daß diese Geschichten nicht einer fernen Vergangenheit angehörten, sondern hier stattfänden, dreihundert Meter vom Strand entfernt, wo die Urlauber morgen wieder baden, und dahinten sind die Hafenrestaurants, in denen sie zu Mittag essen, wenn das französische Kriegsschiff längst wieder vor Libyen kreuzt, um andere Flüchtlinge aufzuhalten.
    Noch bevor der Bus eintrifft, spüre ich die Unruhe, die alle erfaßt, eine stille Aufregung, obwohl sich nur drei Soldaten auf dem Deck in Bewegung gesetzt zu haben scheinen. Durch eine Luke treten sie ins Schiffsinnere und kurze Zeit später mit den ersten Flüchtlingen wieder hervor, die sie am Arm stützen, einem älteren Mann zuerst, der offenbar am Bein verletzt ist, dann mit einer Schwangeren, wirklich wie Josef und Maria, denke ich jetzt, zwei unglaublich Fremde, nicht nur wegen ihrer dunklen Haut und dem weiten, exotischen Gewand der Frau mit dem roten Kopftuch, das nach somalischer Art bis über den Bauch reicht, viel fremder
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