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Ausnahmezustand

Ausnahmezustand

Titel: Ausnahmezustand
Autoren: Navid Kermani
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alte Lager geschlossen werden mußte. Ein als Flüchtling getarnter Reporter war eine Woche ausgehungert und mißhandelt worden, sein Bericht zum Europäischen Parlament durchgedrungen. Daß jemand geschlagen wird, kommt nicht mehr vor, bestätigt auch die Frau vom Flüchtlingswerk der Vereinten Nationen, die seitdem im Lager arbeiten darf.
    Sosehr der Direktor bemüht ist, mit seiner Begeisterung anzustecken, denke ich bei jedem Programmpunkt: o Gott, was für ein Elend. Wir stehen in der Kantine, die mit vier Tischreihen viel zu klein ist, als daß hier jemand sitzen könnte, also wird sie nur zur Essensausgabe benutzt und draußen auf den Betonplatten gegessen, alles sauber, der Menüplan ausgewogen, selbst an die Vitamine hat man gedacht, Primi, Secondi, Dolce, jubelt der Direktor und läßt wie ein Zirkuszauberer das Fließband zwischen den Tischen starten, mit dem die Plastikfolie auf die Teller geschweißt wird:
    – Möchten Sie probieren?
    – Lieber nicht, stammle ich und denke zugleich, daß die wenigsten Flüchtlinge drei Mahlzeiten am Tag hatten, bevor sie übers Meer gezogen sind.
    Im Vergleich zu den libyschen Lagern ist das hier ein Urlaubsressort, wie die Zentralafrikaner zu berichten wissen, auch im Vergleich zu den Camps der Illegalen und der Roma an den Peripherien vieler italienischer Großstädte. Die sind Dritte Welt, Slums mit allem, was dazugehört, Sperrholzwände und Wellblechdächer, kein Wasser, keine Kanalisation, Morast, sobald es regnet. Lampedusa dagegen ist eindeutig EU-Verordnung. Eine armseligere Erfüllung kann sich nicht einmal Gott ausdenken. Ein, zwei Tage schlafen sie nur, sagt die Frau vom Flüchtlingswerk der Vereinten Nationen. Wo sie sich eigentlich befinden, registrieren sie erst danach. Selbst nach zwei Wochen überwiegt bei fast allen die Erleichterung. Nur ein Araber beschwert sich, daß es immer nur Pasta gibt, jeden Tag Pasta, er kann es nicht mehr sehen.
    Nein, Lampedusa bietet keine Skandale mehr. Eher ist es ein Schaufenster geworden, in dem Europa Berichterstattern und Parlamentskommissionen seine Menschlichkeit demonstriert. Ja, wenn man Menschlichkeit nicht nach den Mindeststandards eines europäischen Gefängnisses definiert, sondern als Sattwerden, Schlafstatt, Kleidung, keine Schläge, keine groben Worte, für den Notfall einen Arzt und sogar eine Psychologin, dann ist das Lager menschlich. Ein Skandal ist, was jenseits des Schaufensters geschieht, also bevor ein Flüchtling Lampedusa überhaupt erreicht. Skandalös scheinen die Lager im Landesinneren zu sein, aber die dürfen nicht einmal die Ärzte ohne Grenzen betreten, erst recht kein Berichterstatter. Unmenschlich würde jeder Westeuropäer ein Leben in der Illegalität finden, das sich an den Lageraufenthalt meist anschließt, wenn die Behörden kein Asyl bewilligen. Ein Skandal könnten auch die Einsätze der FRONTEX-Agentur sein, die Europa gegründet hat, um die Flüchtlingsboote weit vor dem eigenen Hoheitsgewässer abzufangen. Ohne zu prüfen, ob sich an Deck Menschen befinden, die ein Anrecht auf Asyl haben, zwingt die Agentur die Boote zur Rückkehr in die afrikanischen Herkunftshäfen. Einem deutschen Fernsehjournalisten sprach der italienische Einsatzleiter ins Mikrophon, daß er angewiesen sei, an Bord zu gehen und Lebensmittel und Treibstoff zu beschlagnahmen, um sie an der Weiterfahrt zu hindern. Anderen Aussagen zufolge sollen Soldaten der Agentur Schlauchboote auf offener See zerstört haben, um die Boote an der Weiterfahrt zu hindern. Genaueres weiß man allerdings nicht, da die Agentur keiner Regierung zur Rechenschaft verpflichtet ist. Selbst dem Europäischen Parlament gegenüber verweigert sie Informationen unter Verweis auf den geheimdienstlichen Charakter ihrer Arbeit. «Um die illegale Einwanderung zu bekämpfen, darf man nicht wie Gutmenschen auftreten, sondern muß böse sein», sagt es hinreichend offen der Innenminister des Landes, in dem der Humanismus geboren wurde.
Der neue Bürgermeister
    Abends wieder Marienprozession, diesmal aus dem Dorf hinaus auf einen Hügel. Mitten im Gottesdienst wenden sich die Gläubigen plötzlich neunzig Grad nach links und sprechen Maria an, erst im Chor, dann jeder für sich, zwei, drei Minuten mit solcher Inbrunst, als stünde dort nicht ein Bild, sondern die Jungfrau selbst. Weil der Bürgermeister die Gemeinde um einen Kopf überragt, sehe ich ihn während der Messe ständig in den Kinnbart gähnen. Nach zwei Stunden steifem Gang und einer
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