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Ausnahmezustand

Ausnahmezustand

Titel: Ausnahmezustand
Autoren: Navid Kermani
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geschlagen mit den Flüchtlingen. Die Bewohner können nichts dafür, es ist nur die Lage, durch die unmenschlich wird, was auf dem Festland nicht menschlicher ist: die Augen zu schließen. Flüchtlingsorganisationen schätzen, daß auf drei Flüchtlinge, die Europas Küsten erreichen, ein Ertrunkener kommt. Selbst Italiens rechter Außenminister Franco Frattini geht von mehreren Tausenden Toten pro Jahr aus. Vielleicht nicht die Touristen, die am Strand die Sonne blendet, aber wer hier wohnt, ich bin mir sicher, denkt bei jedem Unwetter an sie. Sollen doch die Kirchen sie aufnehmen, schimpft der Bürgermeister, wenn ihr Schicksal dem Vatikan so sehr am Herzen liegt, die Kirchen und Klöster im ganzen Land. Man soll weit vor der Küste schwimmende Auffanglager einrichten, fordert seine Stellvertreterin. Man soll sie abknallen, rät deren Parteivorsitzender, Umberto Bossi von der regierenden Lega Nord hat es wörtlich gesagt: «Nach der zweiten oder dritten Warnung – bumm. Dann schießt die Kanone, ohne noch viel zu reden. Die Kanone tötet. Sonst kommen wir nie zu einem Ende.»
Der frühere Bürgermeister
    – Nein, da täuschen Sie sich, die Flüchtlinge sind für die Menschen hier kein großes Thema, sagt der ehemalige Bürgermeister, sind kein Gesprächsstoff in den Familien, den Bars und Restaurants. Sie sind ja praktisch unsichtbar.
    – Sind sie denn keine Belastung?
    – Ja, am Anfang schon, 1993, als die ersten gekommen sind. Damals gab es noch kein Lager, kein Geld, um sie zu betreuen, keine Kleidung, keine Nahrungsvorräte. Damals mußten wir die Flüchtlinge noch selbst versorgen, es ging nicht anders, und wir haben es getan. Gewiß haben manche gemurrt, und die Sicherheit war wirklich ein Problem, die Flüchtlinge lungerten ja den ganzen Tag herum, manche schliefen am Strand. Aber jetzt?
    – Ich könnte mir vorstellen, daß ihre Schicksale irgendwie auf den Seelen lasten.
    – Ach was, die Flüchtlinge schaffen Arbeitsplätze, allein im Aufnahmelager sechzig für die Einheimischen, dazu die Investitionen, die häufigeren Flugverbindungen, die Wohnungen für die Mitarbeiter der auswärtigen Organisationen.
    – Allerdings sind die Meldungen nicht gerade eine Werbung für die Insel.
    – Ja, unser Image hat gelitten, räumt der ehemalige Bürgermeister ein, es kommen weniger Touristen – aber wer verkündet denn in ganz Italien, daß Lampedusa kurz vor dem Untergang steht? Mein Nachfolger! Dabei geht es ihm gar nicht um die Flüchtlinge. Ihm geht es um den Ausnahmezustand, aus dem er Profit schlagen kann.
    – Das Prinzip Berlusconi, meinen Sie?
    – Ja, das Prinzip Berlusconi, nur im Dorfformat: Mein Nachfolger will Aufträge haben, mit denen er seine Freunde versorgt, Zuschüsse, mit denen er seine Wähler gewinnt. Er behauptet, daß die Carabinieri überfordert seien, und verlangt demonstrativStacheldraht um das Aufnahmelager. Als nächstes fordert er den Aufbau einer privaten Polizei, weil sonst die Sicherheit nicht wiederherzustellen sei, die Sicherheit auf Lampedusa, das müssen Sie sich vorstellen, wo niemand nachts seine Haustür abzuschließen braucht. Das einzige Verbrechen, das Flüchtlinge in all den Jahren begangen haben, war drei Bier zu bestellen, die sie nicht bezahlen konnten. Warum verlangt mein Nachfolger also eine Privatpolizei? Damit er neue Aufträge vergeben kann. Gerade hat er die Zustände im Aufnahmelager beklagt, daß es uns das Herz brach. Es sei zu eng, es würde stinken, überhaupt sei es unmenschlich, wie die Flüchtlinge behandelt würden. Und wie kann man ihre Lage verbessern? Indem die Kommune das Lager übernimmt – wieder neue Posten! Wo es ihm nützt, sind die Flüchtlinge arme Kreaturen, und am nächsten Tag sagte er, daß Neger stinken, egal wie oft sie sich waschen.
    – Ist es Rassismus?
    – Nein, die üblichen Vorurteile, mehr nicht. Solche Leute sind nicht wie früher die Faschisten. Solche Leute profitieren von jeder Flüchtlingsbarke, die in Lampedusa landet. Zwölftausend Euro würde es kosten, die Barke als Sondermüll zu entsorgen, der Motor, die Batterie, das Metall, das kann man nicht einfach im Meer versenken. Zwölftausend Euro kassieren sie und bezahlen jemandem zweitausend Euro, der die Einzelteile in den Hausmüll wirft oder die Barke gleich im Meer versenkt.
    – Hat der jetzige Bürgermeister denn die Wahl nicht mit den Parolen gegen die Flüchtlinge gewonnen?
    – Die Wahl hat er gewonnen, weil er sich mit den Carabinieri anlegte. Die seien zu
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