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Ausnahmezustand

Ausnahmezustand

Titel: Ausnahmezustand
Autoren: Navid Kermani
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oder ich will es auch gar nicht. Ich denke, es ist doch alles schon gesagt, wozu noch die achtzehnte Geschichte von den palästinensischen Ölbäumen erzählen, die die Siedler unter Aufsicht ihrer Armee fällen? Ich merke es beim Lesen selbst: Ich schreibe die ganze Zeit auf, was ich gedacht, nicht, was ich gesehen habe. Vielleicht ist das auch eine Beobachtung: daß mir das Verständnis verlorengegangen ist. Für mich als Autor ist das eine Kapitulation.
Es sind Menschen
    Die Frage ist nicht, warum eine Besatzungsmacht so brutal ist. Das sind die meisten Besatzungsmächte. Die Frage ist, warum sogar ein Staat wie der israelische sich derart brutalisieren konnte. Ich befürchte, in der Antwort liegt nicht nur eine Wahrheit über Israel, sondern über unsere heutige westliche Zivilisation, auch die europäische. Ist der andere einmal als Gefahr gebrandmarkt, wird er zum wilden Tier, und wir verlieren alle Hemmungen. Ausnahmezustand. Es ist die gleiche Frage wie nach den Bildern aus Abu Ghraib: Jeden Tag erleiden Gefangene in vielen Ländern ähnliche oder noch schlimmere Mißhandlungen, zumal in der arabischen Welt. Das Verstörende an Abu Ghraib waren weniger die Folterungen selbst, sondern die Folternden: Bürger eines demokratisch verfaßten Staates. Und nicht nur das: Sie hielten ihr Verhalten für so normal, daß sie die Szenen massenhaft fotografierten und die pics pere-mail verschickten. Folgt man den Aussagen der Soldaten, die später angeklagt worden sind, fiel ihnen der Verstoß gegen die zivilisatorischen Standards, mit denen sie aufgewachsen sind, gar nicht auf. Mitmenschlichkeit setzt voraus, daß man den anderen als Menschen ansieht.
    In Ramallah besuchte ich Mahmud Darwisch. Wenn das Wort Nationaldichter je im 20. Jahrhundert eine Berechtigung gehabt hat, dann bei ihm. Darwisch war ein Dichter, der noch das «Wir» kannte, nicht bloß das Ich. In seinen Gedichten und durch seine Gedichte hat sich Palästina als Nation bewahrt und neu erschaffen, als es von den Landkarten verschwunden war. In seinen letzten Jahren hat sich Darwisch zunehmend von der Rolle befreit, Stimme der Palästinenser zu sein. Seine Themen wurden immer intimer und damit zugleich allgemeingültiger: Liebe und Eros, Einsamkeit und Tod. Als Palästinenser habe er keine Chance, ins Private zu fliehen, indes sehe er seine politische Aufgabe heute darin, das zu bewahren, was er durch die Besatzung am meisten gefährdet sieht: die Humanität. «Wir sind Menschen», sagte Darwisch: Menschen, die lieben, die sich streiten, die zärtlich sind und egoistisch, großmütig, tapfer und ängstlich. Widerstand gegen die Besatzung besteht darin, Menschen zu bleiben, nicht zu werden, wozu die Besatzer sie machen. «Es sind Menschen», dachte ich, wann immer in den nächsten Tagen an einem Checkpoint ein Soldat sein Maschinengewehr auf die Palästinenser richtete.
    Darwisch war tief pessimistisch. Mahmud Abbas sei ein ehrenwerter Mann, doch erstrecke sich seine Autorität nicht einmal bis zu seinem eigenen Ministerpräsidenten. Die palästinensische Gesellschaft zerfalle, nur damit ihr Staub von den Islamisten aufgekehrt würde. Zu der äußeren Besatzung komme daher immer stärkerer Druck von innen, Zensur, Verbote, Angriffe. Als junger Mann habe er die Welt retten wollen, sagte Darwisch und lächelte spöttisch. Dann hätte er sich damit begnügt, Palästina zu befreien. Schließlich habe er sich mit der Westbank zufriedengegeben. Heute sei er schon froh, in Ramallah halbwegs unbehelligt leben zu können.
    Die Lesung Darwischs, die ich zwei Tage nach unserem Gespräch besuchte, hatte den Charakter eines Popkonzerts: Absperrungen rund um das große Theater, zwei riesige Leinwände für die Übertragung nach draußen, der Präsident in der ersten Reihe, Ovationen von mehreren tausend Menschen, die zwei Stunden lang intensiv einer Lyrik zuhörten, die das Gegenteil von dem ist, was die Fundamentalisten beider Seiten verkünden, das Gegenteil von Parolen: Menschlichkeit noch in den feinsten Verästelungen.
    Wir öffnen das Gartentor, damit der Jasmin als schöner Tag
    auf die Straßen hinausgeht
.
    Wir lieben das Leben, wo wir nur können
.
    Wo immer wir uns niederlassen, säen wir schnellwüchsige
    Pflanzen, wo wir uns niederlassen, ernten wir einen Toten
.
    Wir blasen auf der Flöte die Farbe der fernen Ferne, malen
    auf den Staub des Weges ein Wiehern
    Und schreiben unseren Namen Stein für Stein – o Blitz
,
    erhelle die Nacht für uns, erhell
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