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Ausnahmezustand

Ausnahmezustand

Titel: Ausnahmezustand
Autoren: Navid Kermani
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Westjordanland und in Gaza. In gewisser Weise verstehe ich, wenn Israelis immer wieder zu ihrer Verteidigung vorbringen, daß die Verbrechen anderer Staaten doch viel größer seien; warum immer nur sie angeklagt würden. Aber was einen in Israel völlig ratlos macht: Es ist gerade nicht die Wiederkehr des Faschismus. Dann wäre es einfach zu durchschauen und völkerpsychologisch zu erklären, deshalb stellen Gedankenfaule und Antisemiten all die unpassenden Vergleiche mit Nazideutschland her. Aber die Vergleiche sind nicht nur unverhältnismäßig. Sie sind im Kern falsch. Israel ist, für sich betrachtet und jedenfalls die längste Zeit seiner Geschichte, ein weltoffenes, zivilisiertes, menschenfreundliches Land. Es ist eine Demokratie. Gerade deshalb ist die Frage unausweichlich und viel schmerzhafter als im Falle von autoritären Regimen: Wie geht das zusammen mit der Besatzung? Wieso behandeln sie die Palästinenser, als seien sie keine Menschen? Ich schreibe das so pauschal, dabei könnte ich allein aus meinen fünf Tagen und ebenso von meiner letzten Reise Dutzende Beispiele anführen, wie Palästinenser jeden Tag gedemütigt werden, in ihrer Würde verletzt, als Verbrecher behandelt, in Käfigen eingeschlossen, an geladenen Sturmgewehren vorbeigetrieben. Das sind alltägliche Erfahrungen im Leben so gut wie aller Palästinenser. Wann immer sie von A nach B wollen, laufen sie vor einem geladenen, auf sie gerichteten Sturmgewehr vorbei. Am Checkpoint vor Gaza, der so monströs ist wie früher die innerdeutschen Grenzübergänge, nur daß die Palästinenser nicht in Autos sitzen, sondern wie Schweine rennend durch die Schleusen geschickt werden, fragte mich ein israelischer Soldat, was ich denn dort verloren habe. Ob ich Tierarzt sei.
Die eigene Kapitulation
    Ich wollte diese letzte Anekdote nicht erwähnen. Ich weiß genau, welchem Ressentiment in Deutschland sie in die Hände spielt. In den früheren Fassungen des Textes stand sie nicht. Aber an den Reaktionen von Freunden, die das Manuskript lasen, merkte ich, daß sie meine Verbitterung nicht nachvollziehen konnten. So kritisch sie der israelischen Regierungspolitik gegenüberstehen, erschien ihnen mein Text zu einseitig, zu polemisch, zu pauschal. Sie verstanden nicht, warum ich, der ich in meinen früheren Texten doch versucht hatte, in die Wahrnehmung der Israelis, ihre heroische Geschichte und ihre alltägliche Angst vor dem Terror genauso einzutauchen wie in die Wahrnehmung der Palästinenser, warum ich nur noch vom Schmerz der einen Seite sprach und Schuld so eindeutig zuwies. Meine Freunde haben recht. Anders als vor drei Jahren bin ich dieses Mal an der israelischen Realität abgeprallt. Ich lief durch West-Jerusalem oder durch Tel Aviv, sah die Menschen, bei denen ich gern leben würde, ein bißchen anstrengend, aber herrlich bunt in ihrer Herkunft, freundlich gegenüber Fremden, die Frauen berückend schön, Menschen, die mir sympathisch waren oder nicht, aber jedenfalls in ihren Lebensformen und Gewohnheiten mir näher als die Menschen in Hebron oder Gaza. Genau wie beim letzten Mal konnte ich nicht aufhören, zu bewundern, was die Israelis aufgebaut haben in ihrem Staat. Aber ich blieb außen vor wie vor einer Glasscheibe.
    Das Leben in Israel gefiel mir so gut wie vor drei Jahren, aber ich konnte es nicht mehr genießen. Etwas in meiner Realität war eingebrochen wie eine Fassade aus Pappe. Etwas in mir sagte: Ihr seid Schuld, jene sind die Opfer. Sie sind nicht bessere Menschen als Ihr, aber die Besatzer seid Ihr, nicht sie. Und ich glaube, im nachhinein kann ich sagen, wann meine Wahrnehmung endgültig in die Einseitigkeit gekippt ist, nämlich am Checkpoint vor Gaza, als ich nach meinem Beruf gefragt worden bin. Da hätte ich dem Soldaten am liebsten ins Gesicht geschrieen: Die Tiere seid Ihr! Das darf maneigentlich nicht schreiben, nicht einmal weitererzählen, weil es so viel anderes ausblendet. Aber ich muß es jetzt schreiben, um zu erklären, warum ich nicht mehr alles in den Blick bekam. Es ist mir auf dieser Reise nicht mehr gelungen, Beobachter zu bleiben und mich einzufühlen in die, über die ich schrieb. Das aber war immer die Voraussetzung meiner Reportagen. So sehr ich mit den Menschen sympathisierte, zwang ich mich dazu, so genau wie möglich Bericht zu erstatten. Jetzt aber berichte ich nicht, sondern urteile. Ich sympathisiere nicht mehr, sondern bin parteiisch geworden. Deshalb fällt es mir auch schwer, zu beschreiben –
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