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Ausnahmezustand

Ausnahmezustand

Titel: Ausnahmezustand
Autoren: Navid Kermani
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wenigstens wie Untertanen. Es gibt für sie Gesetze, Gerichte, Arbeitsplätze. Natürlich sind sie nicht gleichberechtigt, eine Demokratie ist Israel nur für Juden – aber haben die Menschen in Ägypten, Syrien oder anderen arabischen Staaten etwa mehr Rechte? Und die öffentliche Verwaltung funktioniert in Israel allemal besser als in den arabischen Staaten, seien sie diktatorisch verfaßt wie in Ägypten, islamistisch wie im Sudan oder demokratisch wie im Libanon.
    Es verwundert nicht, daß die meisten israelischen Araber sich zwar ein freies Palästina wünschen, aber keinen Zweifel daran lassen, daß sie nach einem Friedensschluß dennoch in Israel wohnen bleiben werden. Auch in der Westbank lebten die Menschen besser, als sie noch von Israel verwaltet wurde. Es gab Schulen, die diesen Namen verdienten, Straßen, die gepflegt wurden, kaum Korruption – und sie durften sich frei bewegen. Die Israelis traten als Kolonialisten alter Schule auf: Sie wollten den eingeborenen Wilden die Zivilisation bringen. Seit die Palästinenser die Verwaltung der Städte im Westjordanland übernommen haben, funktioniert fast nichts mehr. Natürlich liegt das zunächst an der Besatzung. Wie soll ein Staat funktionieren, wenn nicht einmal dessen Repräsentanten – geschweige denn die einfachen Bürger – frei von Stadt zu Stadt fahren dürfen? Aber die Besatzung kaschiert zugleich, daß der Autonomiebehörde mit ihren vielen Machtzentren kaum zuzutrauen ist, das Leben jemals auch nur annähernd so gut zu organisieren, wie der israelische Staat es für die eigenen Bürger tut, einschließlich der arabischen.
Die Mauer vor dem Mitgefühl
    Das Problem der Regierung sind im Augenblick nicht die Palästinenser. Dank amerikanischer Rückendeckung darf sie mit ihnen ohnehin tun, was sie will. Das Problem der Regierung wird dieisraelische Gesellschaft sein, die sich in ihrer Mehrheit überhaupt nicht für die Westbank und die Siedlungen interessiert. Die meisten Israelis wollen einfach in Ruhe leben. Die jetzige Regierung hat ihnen die Ruhe fürs erste beschert, deshalb ist sie populär – nicht etwa, weil sie der Idee eines Groß-Israel anhängt. Wenn die Rechten dennoch ernst machen mit der Annektierung der Westbank, wird sie mit der eigenen Gesellschaft größere Schwierigkeiten haben als mit den bis dahin völlig zugrundegerichteten Palästinensern.
    Daß Ariel Scharon mit seiner Politik dem Hobbes’schen Gott gleicht, der die Menschen erst krank macht (sprich: gewalttätig), um sich anschließend damit zu brüsten, wie gut er heilen kann (die Gewalt niederringen), bemerkt kaum jemand. Ohnehin wollen die wenigsten Israelis noch etwas von den Palästinensern wissen. Wir haben ihnen Frieden angeboten, sie wollten nicht – nun gut, dann haben sie eben die Konsequenzen zu tragen, nur haltet sie uns vom Leib, diese Wilden: Das ist die Kurzfassung der jüngeren Geschichte, die ich am häufigsten höre. Die Mauer, mit der Israel die Palästinenser wegsperrt (und dabei durch ihren Verlauf schon einmal einen Teil ihres Landes annektiert), die Mauer ist für die Palästinenser alltägliche Realität: eine monströse Betonschneise, die sich mitten durch ihre Straßen, Felder, Dörfer zieht. Für die Israelis, die die Mauer kaum je mit eigenen Augen zu sehen bekommen (auf der «israelischen» Seite wurde zudem Erde aufgeschüttet, und sie wurde bepflanzt, damit sie nicht ganz so hoch erscheint), für die Israelis erfüllt die Mauer zunächst einen symbolischen Zweck: sie schließt die Palästinenser aus ihrer, der israelischen Realität aus.
    Zweimal war ich abends unterwegs in Israel, in West-Jerusalem und in Tel Aviv. In den Cafés und Kneipen kam ich schnell ins Gespräch. Wo kommst du her? Sag bloß, interessant, erzähl mal. Und was machst Du in Israel? Ach so, Du warst gar nicht in Israel? Du warst heute in Gaza? Und gestern? Ramallah? Themawechsel. Außerhalb der Zirkel, in denen man sich gegen alle Erschöpfung weiterhin für den Frieden einsetzt, hat kein einziger Israeli, den ich kennenlernte, nachgefragt, wie denn die Situation in Gaza sei, in Ramallah, in Nablus, niemand wollte erfahren, was ich dort einpaar Stunden zuvor gesehen hatte. Wozu auch? Eigentlich weiß jeder alles. Lieber die Mauer hochziehen und über die Champions League sprechen. Noch ein Bier?
    Wahrscheinlich behandeln die Russen die Tschetschenen noch brutaler als die Israelis die Palästinenser. Wahrscheinlich gibt es noch schlimmere Formen der Besatzung als im
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