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Ausnahmezustand

Ausnahmezustand

Titel: Ausnahmezustand
Autoren: Navid Kermani
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streng, behauptete er, die würden die Menschen hier schikanieren, genauso wie die Bauaufsicht und überhaupt der ganze Staat, der solle die Menschen endlich in Ruhe lassen, die Menschen würden ihre Angelegenheiten schon selbst organisieren. Die Menschen – daß ich nicht lache! Mit den Menschen meinen sie sich selbst. Alles soll privatisiert werden. Nur das, was kein Geld bringt, möge der Staat bitteschön weiterhin leisten, die Flüge nach Lampedusa zum Beispiel, die soller gefälligst subventionieren. Der Staat ist für sie ein Geschäftsbereich.
    Für eine halbe Minute rührt der ehemalige Bürgermeister still im vierten Espresso, als überlege er, was noch gegen seinen Nachfolger vorzubringen sei. Er selbst ist ein Linker alter italienischer Schule, mit dreizehn bereits Generalsekretär der Kommunistischen Partei auf Lampedusa, weil er sicher lesen und schreiben konnte, als sich das in Süditalien noch nicht von selbst verstand. Er sei immer ein Aufrührer gewesen, noch als Jugendlicher sein erster politischer Sieg: die Einrichtung eines Schildkrötenreservats im Osten der Insel. Die Photos hängen an den Wänden. Lampedusa sei eigentlich christdemokratisch, sagt er, sein eigener Wahlsieg eine Ausnahme gewesen. Aber die Christdemokraten waren wenigstens noch Gegner. O wie sehr er diese neuen Typen verachtet, ihre Ignoranz, ihre Gesinnungslosigkeit, ihren Opportunismus! Sie wissen nichts von der Geschichte Lampedusas, sagt er, über die er gerade ein Buch schreibt, ob sich in Deutschland ein Verlag fände, es zu übersetzen?
    – Wir sind doch selbst ein Volk von Migranten, von Bootsflüchtlingen, wenn Sie so wollen, sind nach Tunesien ausgefahren, weil es Arbeit damals in Afrika gab. Viele von uns haben Araberinnen geheiratet, andere sind dort geboren und später mit den Eltern nach Lampedusa gezogen. Viele von uns sind Araber, auch wenn sie das nicht gern hören.
    Es ist morgens halb zehn, der ehemalige Bürgermeister sitzt in einem seiner beiden Hotels, er trägt T-Shirt und Bermuda-Shorts, die mittellangen Haare zurückgekämmt, breites Gesicht und ebensolches Lächeln, die Stimme tief von der Zigarre, die er wahrscheinlich nur zum Schlafengehen ausdrückt. Er ißt zu gern oder bewegt sich zu wenig, man sieht es, aber im Herzen ist der Eifer noch da, mit dem er einst für die Schildkröten kämpfte.
Das Lager
    Betonplatten zwischen zweigeschossigen Containerreihen, die Zimmer mit sechs doppelstöckigen Betten so voll, daß kaum Platz zum Stehen ist, überhaupt die Enge im Männerbereich, obwohl es auf dem Meer seit Tagen stürmt und daher nicht einmal alle Liegen belegt sind. Das ganze Lager für offiziell siebenhundert Flüchtlinge ist keine sechzig Meter breit, keine zweihundert Meter lang, schätze ich, eine Bevölkerungsdichte wie in keinem japanischen Hochhaus. Auf jedem Quadratmeter manifestiert sich das Bemühen der Behörden, die Linie zu halten, auf der man ihnen weder vorwerfen kann, die Flüchtlinge unmenschlich zu behandeln, noch sie zu verwöhnen. Als Matratzen dienen grob geschnittene Schaumstoffbahnen, wie man sie auf dem Bau als Isoliermaterial verwendet, das Bettzeug ist aus Papier, alles Geschirr Einweg aus Plastik. Im Männerbereich steht ein stummer Pulk vor dem Tor, ohne daß mir jemand erklären kann, worauf die Männer warten. Stumm sind sie überhaupt alle, die Langeweile mit Händen zu greifen, dazu die unvermeidlichen Spannungen untereinander. Die Frauen haben allerdings auch viel mehr Platz und sogar ein paar Bäume, die Schatten spenden, haben Stühle und drei Spielgeräte aus buntem Plastik für Kinder. Die Männer hingegen, hier die Zentralafrikaner, dort die Araber, in der Ecke die Ostafrikaner, hier und dort ein paar Tamilen, Nepalesen und Ostasiaten, sitzen auf dem Boden oder liegen auf den Schaumstoffrechtecken, die sie sich aus den Zimmern geholt haben. Hinter dem Container des Sanitätsdienstes sind weitere Matratzen übereinandergeworfen, ein ganzer Berg aus dem fleckigen, dunkelgelben Schaumstoff für die Zeit, wenn sich das Meer wieder beruhigt. Auf dreißig Quadratmetern haben sich acht naßgeschwitzte Fußballer ein Spielfeld erobert und mit vier Plastikflaschen zwei Tore markiert.
    Das Spiel trägt zur Gelöstheit der Stimmung bei, sagt der junge Direktor, der sich ständig die langen Haare von der großen Sonnenbrille streicht, das Hemd vier Knöpfe offen, Jeans mit breitemDesignergürtel, spitze Lederschuhe. Seine Firma hat die Ausschreibung gewonnen, nachdem das
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