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Ausnahmezustand

Ausnahmezustand

Titel: Ausnahmezustand
Autoren: Navid Kermani
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Messe, die sich so lange hinzieht, daß die Hälfte der Gläubigen den Rückweg vor der Kommunion angetreten hat, ist er müde, das kann man verstehen, und jetzt mußte der Arme auch noch dem tausendsten Journalisten erklären, daß er nichts gegen Ausländer hat. Dabei hat selbst sein linker Vorgänger eingeräumt, daß der rechte Bürgermeister sich prächtig mit dem dunkelhäutigen Pfarrer versteht, den der Bischof wegen Priestermangels nach Lampedusa entsandt hat.
    – Selbstverständlich, erklärt der Bürgermeister auf einem Klappstuhl, während neben ihm der Altar abgebaut wird, selbstverständlich muß den Flüchtlingen geholfen werden, deren Not er ausführlich schildert. Leider haben die Regierungen in Rom versagt, ob rechts, ob links. Die Forderung der Linken, die Lager zu öffnen, treibt die Elenden nur in die Kriminalität, die Prostitution, die Drogensucht. Der Beschluß der Rechten, die Elenden als Kriminelle zu behandeln, ist unrealistisch. So viele Lager könnten gar nicht gebaut werden, um alle zu internieren.
    – Und Ihre Lösung?
    Auf diese Frage hat der Bürgermeister gewartet. Die ganze Zeit schon drückt er auf die beiden oberen Ecken meines Notizbuchs, damit ich besser schreiben kann. Wenn ich eine Frage stelle, weist er mit dem Zeigefinger jedesmal auf die leere Stelle, auf der seine Antwort notiert werden soll, und dann wendet er manchmal seinen Kopf zu meinem herüber, als wolle er auf dem Blatt überprüfen, ob ich richtig protokolliert habe.
    –Wir als eine Kommunalverwaltung haben lange nachgedacht und viele Erfahrungen gesammelt, hebt der Bürgermeister an: Die Lösung ist, daß den armen Menschen in ihren Heimatländern geholfen werden muß!
    Ich merke, daß der Bürgermeister auf Anerkennung oder wenigstens eine Nachfrage wartet, aber mir fällt spontan nichts ein.
    – Wahrscheinlich gibt es keinen Politiker in Europa, der Ihnen widerspräche, versuche ich meinen Einwand höflich zu formulieren.
    – Aber ich meine es ernst! ruft der Bürgermeister erregt: Wir müssen Schulen bauen, wir müssen Demokratie schaffen, wir müssen in ganz großem Stil einsteigen.
    Dann erklärt er seinen Masterplan, der zugegeben sehr viel Geld koste. Bei jedem einzelnen Punkt zeigt er mit dem Finger wieder auf die Stelle, wo ich den Vorschlag notieren soll. Die Frage, ob sich der Bürgermeister selbst nicht am besten eignet, den Masterplan für Afrika umzusetzen, verkneife ich mir. Statt dessen erwähnt er so beiläufig, als gehöre es zu seinem Masterplan, daß Italien die Flüchtlinge brauche, um die Drecksarbeit zu verrichten, für die sich die Italiener zu schade seien.
    – Ist das nicht ein Widerspruch? schrecke ich ihn auf.
    – Wenn Italien Arbeitskräfte braucht, erregt sich der Bürgermeister wieder, soll die Regierung eben Visa erteilen! Wir sind fünftausend Menschen. Wir können nicht Europas Probleme lösen. Wir sind Christen. Wir haben die Flüchtlinge aufgenommen und werden sie weiter aufnehmen. Aber wir sind es leid, daß ständig schlecht über uns geschrieben wird. Die Journalisten tun so, als kollabiere die Insel, dabei ist es wunderbar hier, ein phantastisches Urlaubsziel.
    – Sicher, bestätige ich und frage, ob der Bürgermeister mit seinen Interviews nicht selbst zur Hysterie beigetragen habe.
    – Das war ein bösartiger Angriff der linken Zeitungen auf mich, weiß der Bürgermeister sofort, worauf ich anspiele: Als das Lager im Sommer mit zweitausend Flüchtlingen überfüllt war, habe ich gesagt, daß die Menschen dort wie Tiere leben. Ich habenicht gesagt, daß es Tiere sind, verstehen Sie? Und als wir die Probleme mit der Wasserversorgung hatten, habe ich gesagt, daß die armen Schwarzen nicht sauber werden, wenn sie sich waschen – weil sie kein Wasser haben, verstehen Sie? Ich war es doch, der den Vatikan attackiert hat, damit er die armen Leute aufnimmt. Ich habe nichts gegen Afrikaner. Ich habe nichts gegen Araber. Ich habe nichts gegen Asiaten. Ich habe nur etwas gegen Gesetzlosigkeit. Eine Demokratie muß in der Lage sein, Ordnung zu schaffen und das Gesetz durchzusetzen.
    – Eine Blockade?
    – Ja, nennen Sie es Blockade. Wenn die Regierung wollte, könnte sie den Seeweg morgen versperren.
    Der Bürgermeister sieht, wie ich den Satz notiere, ohne eine weitere Frage zu stellen. Deshalb zeigte er mit dem Finger wieder aufs Papier:
    – Das sage ich auch im Interesse dieser Elenden, auf die in Europa nur Kriminalität, Prostitution und Drogen warten. Wir dürfen
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