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Ausnahmezustand

Ausnahmezustand

Titel: Ausnahmezustand
Autoren: Navid Kermani
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Zwölfjährige vor der Mutter, danach die Mutter vor der Zwölfjährigen, und so weiter. Das Problem ist, daß er leider nicht übertreibt, allenfalls ignoriert, daß die Zahl der Übergriffe rückläufig zu sein scheint. Die Berichte, wonach die Aufständischen ebenfalls für Mißhandlungen und Morde verantwortlich sind, verwirft er als indische Propaganda. Daß er für den Anschluß Kaschmirs an Pakistan eintritt, halte ich auf der Grundlage meiner eigenen Kenntnis Pakistans, mit Verlaub, für keine so gute Idee, ohne es direkt zu formulieren. Geelani strahlt eine solche Würde aus, daß man als Jüngerer nicht gern offen widerspricht. Die Pakistanis selbst seien doch von der Forderung nach einem Plebiszit abgerückt, wende ich schließlich ein. Als ob die Pakistanis etwas zu sagen hätten, wehrt Geelani meinen Einwand ab. Nicht die Pakistanis seien vom Plebiszit abgerückt, sondern Perveez Musharraf: Wieder einmal sei Kaschmir verraten worden.
    Verräterin? Auf die Frage, ob sie sich als Inderin bezeichne, antwortet Mehbooba Mufti ohne zu zögern: Ja, natürlich bin ich Inderin. Ich bin Kaschmiri und Inderin. Wenn in den vergangenen Jahren überhaupt einmal ein westliches Fernsehteam den Weg nach Kaschmir fand, porträtierte es Mehbooba Mufti gern als Hoffnungsgestalt: eine Frau in mittleren Jahren, geschieden, die als Vorsitzende der demokratischen Volkspartei ihre Landsleute beschwört, von den Waffen zu lassen, und zugleich ihre Stimme gegen die Verbrechen der indischen Armee erhebt, eine muslimische Jeanne d’Arc der Diplomatie, religiös und feministisch. Bei den letzten Wahlen hat sie viele Kaschmiris überzeugt, an die Urnen zu gehen, und ihre Partei aus dem Stand in die Regierungskoalition geführt. Als ich sie in ihrer Villa aufsuche, ist sie viel mehr Politikerin, als ich nach den Berichten angenommen hatte, wie vorformuliert die Antworten, nicht weil sie unglaubwürdig wirken, sondern weil mir keine Fragen gelingen, die sie nicht vielfach schon beantwortet hat. Daß sie überlegt, die Koalition zu verlassen, weil die Landesregierung nicht genügend Druck ausübe auf die Armee und die Regierenden in Delhi, hat immerhin den Wert einer Lokalmeldung, wie ich später erfahre. Es sei doch auffällig, spielt auch Mehbooba Mufti auf die sogenannten
faked encounters
an, die fingierten Zusammenstöße, daß sich immer gerade dann ein terroristischer Anschlag ereigne, wenn der Ruf nach dem Rückzug der Soldaten lauter werde.
    In ihrem Ambassador – der indischen Limousine, die man aus Agatha-Christie-Filmen kennt – und mit vierzehn Militärfahrzeugen Begleitung nimmt sie mich am nächsten Tag mit auf eine Tour durch die Dörfer ihres Wahlbezirks. Meinte sie gestern, daß die kaschmirische Polizei längst in der Lage sei, für die innere Sicherheit zu sorgen, gesteht sie heute ein, nicht auf die indischen Soldaten verzichten zu können, die sie bewachen. Die Reiseroute, vor allem aber die spontanen Abzweigungen und Pausen, die sie anordnet, sind ein Albtraum für ihre Bodyguards, denen der Frust und die Anspannung ins Gesicht geschrieben stehen. Ob es eine Show ist für den ausländischen Berichterstatter? Wahlen gewinntsie, indem sie hier einen Brunnen, dort einen Friedhofzaun finanziert, sich die Klagen über den verhafteten Sohn, den mißhandelten Vater anhört, Namen aufschreibt, sich zu kümmern verspricht. Wenn alle Vertreter des Establishments Wahlkampf auf Feldwegen betrieben, hätte das Land ein paar Brunnen mehr und ein paar Folterer weniger, geht mir durch den Kopf. Die Menschen entlang der Straßen und Feldwege reagieren freundlich auf die Staatskarosse.
    – Was hat denn der ganze Aufstand gebracht?, fragt Mehbooba Mufti und zeigt Anzeichen von Erregung: daß wir heute glücklich wären, wenn wir wieder die Autonomie hätten, die es bis vor dem Aufstand gab.
    Kaschmir lehrt nicht nur, wie weit Demokratien gehen können. Erschreckender ist vielleicht noch, wie weit sie kommen, wenn sie einmal den Ausnahmezustand erklärt haben. Ein Soldat auf zehn Einwohner und äußerste Härte – das reicht, um selbst der widerspenstigen Bevölkerung das Rückgrat zu brechen. Als ich auf halber Wegstrecke aussteige, um mit meinem eigenen Faroq nach Srinagar zurückzukehren, weist mich Mehbooba Mufti auf einen nahe gelegenen Schrein hin, das Grab eines Mystikers.
    – Soll ich dort für Sie beten? frage ich.
    – Nein, beten Sie für Kaschmir.
Nachts
    Weil die Stadt tagsüber so normal wirkt, dauert es ein paar
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