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Ausnahmezustand

Ausnahmezustand

Titel: Ausnahmezustand
Autoren: Navid Kermani
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an der Universität, vor einigen Jahren das Herz der Unabhängigkeitsbewegung, begegne ich niemandem, der noch bereit wäre zu kämpfen:
fed up
. Alle unterstützen die Forderung nach Selbstbestimmung, bekräftigt eine Anglistik-Professorin, die ungefähr so alt sein dürfte wie der indische Staat, also emeritiert – aber was ist am Tag danach? fragt sie ihre Studenten. Man müsse das vorher wissen: Niemand von euch hat mir darüber etwas gesagt. Werden andere Mächte intervenieren, die Nachbarn, China, die Vereinigten Staaten? Wird es ein Afghanistan werden? Was ist mit den Andersgläubigen, was mit den Frauen? Ein säkulares Kaschmir sieht sie nicht. Ein Blick auf die möglichen Führer des freien Kaschmir genügt ihr: Islamisten. Die Studenten schweigen. Einige haben eine Zeitschrift gegründet, die sich weitgehend auf die Probleme am Campus beschränkt. Darauf sei der ganze Widerstand geschrumpft, sagt einer der Redakteure, auf diese paar zusammengehefteten Seiten aus dem Kopierer. Das Examen ist wichtiger. Seht bloß zu, daß ihr euch nicht in die Politik einmischt, warnen die Eltern, von denen viele selbst noch gekämpft haben für
Azadi
, wie das Zauberwort 1989 auch in Kaschmir hieß: für die Freiheit.
    Immerhin fanden 2002 regionale Wahlen statt, die einigermaßen sauber gewesen sein sollen. Die Koalition in Srinagar bemüht sich, die Menschenrechtsverletzungen der indischen Armee einzudämmen, und verlangt deren Rückkehr in die Kasernen. Aus der Altstadt mit ihren engen Gassen hat sich die Armee bereits zurückgezogen. So überrascht bin ich, dort keine Uniformen anzutreffen, daß ich Ausschau halte. Einzelne Soldaten entdecke ich. Das Maschinengewehr auf dem Rücken, gehen sie scheinbar sorglos umher, kaufen auch ein, verhandeln die Preise. Hingegen die indischen Touristen scheinen sich noch nicht in die Altstadt zu trauen, die mit ihren Häusern aus Stein und Holz so pittoresk ist, daß man jeden Augenblick eine Herde Japaner, eine Deutsche im Sari oder einenAmerikaner in Shorts erwartet. Teehäuser, Plätze, an denen man absichtslos verweilt, gehören seit dem Krieg allerdings nicht mehr zur kaschmirischen Kultur, dafür Moscheen, so gut frequentiert, wie ich sie nur in Kriegen antreffe.
Hausboot 2
    Ja, die Inder sind zurückgekehrt, zu erkennen an der Kleidung, an den Fotoapparaten, an der dunkleren Hautfarbe. Auch auf meinem Hausboot hat eine indische Familie eingecheckt, ein Ingenieur aus Kalkutta mit Frau, Schwester und zwei Kindern. Der Ingenieur und ich stellen fest, daß wir fast auf den Tag gleich alt sind. Hey, darauf müssen wir anstoßen, findet er und bedauert, daß die Hausboote keinen Alkohol mehr ausschenken. Seine Ansichten sind genauso moderat wie die unserer Gastgeber, also unvereinbar. Kaschmir ist für den Ingenieur Bestandteil von Indien,
an integral part
, wie er betont,
of course
. Nein, in den Schulbüchern stehe nichts von dem Versprechen der indischen Staatsgründer, ein Plebiszit abzuhalten. Also wissen die Soldaten nichts davon? Nein, die nicht, man müsse studieren oder sich aus anderen Gründen mit der Geschichte beschäftigen, um das Anliegen der Kaschmiris nicht für absurd zu halten. Indien stecke Unsummen in Kaschmir. Für Tomaten bezahle er in Kalkutta doppelt so viel wie in Srinagar. Kaschmiris wollten Frieden, jedes Volk wolle Frieden – aber der Terrorismus … wenn der Terrorismus nicht wäre. Den heutigen Tag verbringt die indische Familie in Gulmarg, einem Ausflugsziel auf dreitausend Metern Höhe. Bis heute abend. Ja, bis heute abend.
    Der Bootsherr, ein gebildeter, selbst abends frisch rasierter Mann von vielleicht fünfzig Jahren, weist mit einem Nicken auf ein weißes Gebäude am Ufer, ein ehemaliges Hotel, das die indische Armee als Kaserne beschlagnahmt hat. Vor ein paar Tagen sind dort zwei junge Leute erschossen worden, offiziell zwei Selbstmordattentäter, die eindringen wollten. Der Bootsherr sagt, daß die jungen Leute von der Armee nach Srinagar gebracht und hier hingerichtetworden seien. Keiner der Bootsführer und örtlichen Polizisten habe etwas von einem angeblichen Überfall mitbekommen. Auf den Photos in den Zeitungen, die der Bootsherr mir zeigt, sind die Gesichter entstellt, so daß man keinen Anhaltspunkt dafür hat, ob es Kaschmiris sind oder tatsächlich Ausländer, wie die Armee behauptet. Selbstmordattentäter seien es jedenfalls nicht, sondern Gefangene, ist der Bootsherr überzeugt. Die Regierung von Kaschmir übe Druck auf die Armee
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