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Ausnahmezustand

Ausnahmezustand

Titel: Ausnahmezustand
Autoren: Navid Kermani
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aus, die Hotels freizugeben und die Präsenz in der Stadt zu reduzieren. Die Armee lege ihre Art von Beweis vor, daß der Terrorismus den Staat weiter bedrohe.
    Zwischen den Gästen und den Gastgebern bin ich beinah so etwas wie eine Schaltstelle, versuche mal für den einen, mal für den anderen Standpunkt Verständnis zu wecken. Sie selbst haben sich, obwohl keine unfreundlichen Töne zu hören sind, kaum mehr als die Essenszeiten zu sagen und die Frage, wo die Fernbedienung des Fernsehers liegt: Herren die einen, nicht als Inder über Kaschmiris, sondern als Gäste über Angestellte, vorurteilsfrei genug, die Ferien bei den Aufständischen zu verbringen; Diener die anderen, die sich darüber freuen, daß überhaupt wieder jemand auf ihren Hausbooten schläft.
Politiker 1–4
    Kaschmirische Politiker, die nicht in die Illegalität abgetaucht sind, leben in einem eigenen Viertel, durch Straßensperren getrennt von der Bevölkerung. Will man die Villen besuchen, in denen der indische Staat sie unterbringt, muß man mehrere Kontrollen passieren. Zumindest den bekannteren Politikern scheint jeweils eine ganze Hundertschaft Soldaten zugeordnet zu sein, die sich auf den parkähnlichen Grundstücken eingerichtet haben, das Gartenhäuschen als Kaserne, die Besenkammer als Dienstküche, die Pförtnerwohnung für den Offizier. So stilvoll die Villen von außen wirken, haben sie im Inneren den Charme möbliert vermieteter Appartements. Gewiß, für die gewöhnlichen Menschen gehören Politiker einer eigenenKaste an, deren Loyalität der indische Staat reich entlohnt. In den Villen selbst ist der Eindruck ein anderer. Da wirken die Politiker eher verloren inmitten des Mobiliars, das ihnen nicht gehört, vor den Fenstern Soldaten, die eigene Stadt ein Gebiet, das sie kaum je betreten, sondern meist nur in der schwer bewaffneten Wagenkolonne durchfahren können.
    Besonders einem Politiker, Yussof Tarigami, Vorsitzender der Kommunistischen Partei Kaschmirs, die die Regierungskoalition toleriert, nehme ich das Unwohlsein ab, sitzt auf dem Sofa wie sein eigener Gast, ein melancholischer Mann in den Fünfzigern, der mit dem Seitenscheitel und den etwas zu langen schwarzen Haaren auch als Kriminalkommissar in einem italienischen Spielfilm durchgehen könnte. Ich habe keine Wahl, sagt er. Vor zwei Jahren erst ist er einem Anschlag knapp entkommen, nicht dem ersten.
    Über den Staat, der ihr Leben beschützt, haben die Politiker nicht viel Gutes zu erzählen. In den Villen höre ich die gleichen Berichte über willkürliche Verhaftungen, die dauernden Demütigungen, die Entfremdung von Indien. Die Gewalt sei rückläufig, meint Tarigami, aber nicht etwa, weil die Kaschmiris sich mit der Besatzung abgefunden hätten, sondern aus schierer Erschöpfung. Er selbst habe den bewaffneten Widerstand von vornherein für falsch gehalten und sich entschieden, den Kampf innerhalb der Institutionen zu führen. Daß er in dieser Villa lebe, ja, eingesperrt, das sei eben die Konsequenz daraus, im System geblieben zu sein. Auch er fordert Selbstbestimmung, weist aber darauf hin, daß der Bundesstaat nicht nur aus dem Kaschmir-Tal mit seiner weitgehend muslimischen Bevölkerung bestehe, sondern auch aus Jammu, wo die Mehrheit hinduistisch ist, und Ladakh mit seinen vielen Buddhisten. Was wäre mit ihnen, würde Kaschmir an Pakistan fallen? fragt Tarigami mich wie am Vortag die Anglistin ihre Studenten. Unabhängigkeit klinge gut, ein säkularer, multikultureller Staat sei indes vollkommen unrealistisch angesichts dreier Riesen als Nachbarn, Indien, Pakistan, China, von denen keiner auf seinen Anteil an Kaschmir verzichten würde. Es gibt keine perfekte Lösung, seufzt Tarigami, um den Plan eines weitgehendautonomen Kaschmirs zu skizzieren, das nicht formell unabhängig ist, mit offenen Grenzen zum pakistanischen Teil und regionaler Selbstverwaltung in den drei Provinzen Jammu, Kaschmir und Ladakh. Nichts anderes haben der indische Ministerpräsident Atal Behari Vajpayee und der pakistanische Präsident Perveez Musharraf bereits 2003 vorgeschlagen. Auch Vajpayees Nachfolger, Mahmohan Singh, hat sich 2005 in diesem Sinne geäußert: Die Grenzen sollten nicht aufgehoben, aber irrelevant gemacht werden.
    – Alles, was wir tun können, ist Druck auszuüben, mit friedlichen Mitteln, damit Indien und Pakistan endlich tun, worüber sie sich im Kern schon längst einig sind, erklärt Tarigami. Wir müssen die öffentliche Meinung in Indien und Pakistan auf
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