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Ausnahmezustand

Ausnahmezustand

Titel: Ausnahmezustand
Autoren: Navid Kermani
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in den Schrein und bin verblüfft, keine Gruppe vorzufinden, die vorhin noch gesungen haben könnte. Nur ein junger Mann trägt in leisem Singsang etwas aus einem Diwan oder einem Gebetsbuch vor. In der schmucklosen Halle befinden sich vor allem junge Leute, die Jungen mit modischen Frisuren, die Mädchen in ihren bunten Saris, das Halstuch über den Kopf gelegt, jeder und jede für sich im Gebet, auch Kinder, einige Greise und Greisinnen in unterschiedlichen Positionen, manche stehend, manche sitzend, manche hockend, zwei beim Ritualgebet. Andere Stimmen erheben sich, mischen sich in den Singsang, überall im Raum. Und plötzlich ist der Chor wieder da.
Hausboot 4
    Die auch für östliche Verhältnisse umwerfende Herzlichkeit aller Kaschmiris, mit denen ich näher zu tun habe, wird von den abweisenden oder jedenfalls skeptischen Blicken kontrastiert, die mir auf der Straße begegnen. Ob man mich für einen Inder hält? In den Moscheen werden die Blicke nicht einladender, vielleicht weil am meisten die Überläufer gefürchtet werden. Kaschmiris, sagte der Bootsherr, als er heute morgen den Jasmintee brachte, Kaschmiris erkennen sich, wo immer sie sich treffen, ob Hindus oder Muslime, und wenn Sie sich in der Ferne treffen, dann weinen sie, während sie sich umarmen.
    Eingeschüchtert durch Drohungen, Brandstiftungen und mehrere hundert Morde islamischer Extremisten, die den ursprünglich nationalen Aufstand mehr und mehr kaperten, haben im Laufe der neunziger Jahre fast alle Pandits, wie sich die kaschmirischen Hindus nennen, das Kaschmirtal verlassen, etwa sechshunderttausend Menschen. Der Ingenieur aus Kalkutta meint, daß die Pandits nicht von einzelnen fanatischen Gruppen in die Flucht geschlagen worden seien, sondern von den Massen. Der Bootsherr hingegen beteuert, daß die indische Armee einigen Terroristen ausdrücklich erlaubthabe, die Pandits in Angst und Schrecken zu versetzen, damit die Muslime als Barbaren dastünden. Was der Bootsherr dann sagt, würde der Ingenieur nicht bestreiten:
    – Wir haben in den achtzehn Jahren nicht nur hunderttausend Menschenleben verloren, nicht nur unsere Wirtschaft ruiniert und eine Generation herangezogen, die nichts anderes als Krieg kennt. Wir haben unser Ansehen verloren, unsere Würde. Die Welt hält uns für Taliban.
    – Nein, so ist es nun auch wieder nicht, sage ich und verschweige den Grund: daß die Welt sich überhaupt nicht um Kaschmir kümmert, sich allenfalls noch dunkel an die Enthauptung eines westlichen Touristen erinnert.
    – Dann rangieren wir eben knapp hinter den Taliban, meint der Bootsherr.
    Als es zu den Übergriffen kam, habe er oft bei seinen hinduistischen Freunden übernachtet, um sie zu schützen, nicht nur er. Jetzt würde er sie am Telefon zur Rückkehr drängen. Die Pandits hätten in der Regel die bessere Ausbildung, sagt der Bootsherr, die Kaschmiris bräuchten sie, vor allem in den Schulen, wo jetzt die Lehrer fehlten. Der Ingenieur findet, daß sich das Drängen der Kaschmiris in Grenzen halte, und verweist darauf, daß sich noch kein muslimischer Führer öffentlich für die Vertreibung entschuldigt habe.
    – Das stimmt, antwortet der Bootsherr auf den Einwand, den ich mir zu eigen mache, aber bei sechshunderttausend indischen Soldaten, die uns alle Knochen gebrochen haben, ist es vielleicht zu viel verlangt, daß wir öffentlichkeitswirksam Abbitte leisten und Demonstrationen abhalten für die Rückkehr der Pandits.
    Auf die Brutalität der Armee angesprochen, die er nicht rundweg bestreitet, verweist der Ingenieur aus Kalkutta jedesmal auf die Vertreibung der Pandits. Gleichzeitig beteuert er, daß es eigentlich keinen Haß zwischen Hindus und Muslimen, Indern und Kaschmiris gebe, und fragt, wie es eigentlich im Nahen Osten sei. Ich antworte, daß ein Israeli nicht ohne weiteres allein durch Hebron oder ein Palästinenser durch eine israelische Siedlung spazieren könne. Und in Deutschland? Der Ingenieur kennt natürlich die Berichtevon verprügelten Ausländern, darunter Indern. Auch in Deutschland gebe es Orte, sage ich, die jemand mit dunkler Hautfarbe besser meide. Das sei in Kaschmir unvorstellbar, wundert sich der Ingenieur. In Kaschmir könne jeder Inder hingehen, wo er wolle, ohne die geringsten Schwierigkeiten zu haben oder sich um seine Sicherheit zu sorgen. Er selbst sei nirgends freundlicher aufgenommen worden.
    Der Hausherr gibt mir den Reiseberichts eines Engländers aus dem 19. Jahrhundert zu lesen, der die
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