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Ausnahmezustand

Ausnahmezustand

Titel: Ausnahmezustand
Autoren: Navid Kermani
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Tage, bis ich begreife, warum sich niemand am Abend mit mir verabreden möchte. Wenn man ein Auto besitzt, kann man noch durch die leeren, unbeleuchteten Straßen fahren, zu einem Bekannten oder zu einem der vornehmeren Restaurants, die bis neun oder allenfalls halb zehn geöffnet sind. Wahrscheinlich würde man danach noch eine Bar finden, wenn man reich genug ist, die teuren Drinks zu bezahlen. Aber ein Taxi ist nach acht nicht mehr aufzutreiben, nach neun nicht einmal mehr eine Rikscha. Selbst Faroq, mein eigenerFahrer, der mich wie seinen persönlichen Staatsgast umhegt, läßt sich nicht überreden, nicht einmal für den doppelten Fahrpreis. Wenn überhaupt, müßte ich ihn um einen Gefallen bitten, aber dann nähme er überhaupt kein Geld. Einmal setzt mich Faroq um sieben in der Stadt ab, weil ich noch jemanden besuche. Die bringen mich schon zum Hausboot, beruhige ich ihn. Den Gastgebern gegenüber behaupte ich, daß draußen mein Fahrer warte, damit sie mich nicht selbst fahren. Irgendeine Rikscha findet man immer, sage ich mir. Als ich die nächsten zwei Stunden durch die Stadt laufe, ist mir dann doch so unheimlich wie auf einem Minenfeld. Nicht einmal die Soldaten sind noch zu sehen, auch an den Checkpoints nicht. Um diese Zeit sind nur noch Geister in der Stadt, sagt nervös der Fährmann, der am Steg gewartet hat, um mich zum Hausboot überzusetzen. Außer mit Jacke und Pullover wärme ich mich dort mit dem süßen Jasmintee, den der Bootsherr wie jeden Abend vor dem Schlafengehen in einer Thermoskanne bringt.
Hausboot 3
    Eine weitere indische Familie ist gestern abend eingetroffen, dem Lärm nach, der mich lange nicht schlafen ließ, etwa in der gleichen Zusammensetzung wie die Familie des Ingenieurs aus Kalkutta: ein Mann, Frauen, weinende, übermüdete Kinder, vielleicht auch nur ein Kind. Der Mann, der gerade aufs Deck getreten ist, sprach mich vorhin auf Hindi an und war konsterniert, daß ich nicht zum Personal gehöre. Ich weiß nicht, ob er kein Englisch spricht oder mit mir nicht sprechen möchte. Dafür grüßt mich gerade die Frau des Ingenieurs. Ansonsten scheinen indische Frauen der Mittelklasse nicht die Angewohnheit zu haben, vom ersten Tag an auf den Gruß eines männlichen Zimmernachbarn einzugehen. Vielleicht aus Mitleid hat sie mir zum ersten Mal zugenickt, als ich beim Abendessen allein vor dem Huhn mit Tomate saß – Alleinsein scheint hier nur den Heiligen zumutbar zu sein –, hat gelächelt sogar, heute morgen auch die große Tochter, die größer ist als ich,pummelig, und aussieht wie siebzehn, keine Umstände, die es einer Dreizehnjährigen leichter machen. Wenn sie aufs Boot zurückkehrt, schaltet sie den Fernseher ein, noch bevor sie aufs Zimmer geht, Quizsendungen meistens. Gestern abend verfolgte ich in meiner Idylle auf dem Dal-Kanal frierend und mit einem Auge die Fernsehserie um einen Jüngling, der sich bislang vergeblich um eine Schöne bemüht, aber heute kommt die Fortsetzung.
Der Schrein
    Fahrt nach Sokkur im Westen Kaschmirs, von wo Ahad Baba, einer von Kaschmirs hochverehrten närrischen Heiligen, den ich besuchen möchte, gerade nach Srinagar abgereist ist. Er hatte so eine Eingebung, wird mir achselzuckend erklärt, als könne Ahad Baba morgen auch die Idee kommen, nach New York zu fliegen. Faroq, der Fahrer, schlägt vor, mich zum Schrein des mittelalterlichen Mystikers Baba Schukur-e Din zu bringen, damit wir nicht umsonst zwei Stunden gefahren sind. Daß die Islamisten sich nicht durchgesetzt haben, liegt nicht nur an der Übermacht und Brutalität der indischen Armee. Es liegt auch daran, daß die meisten Kaschmiris an ihrem traditionellen, mystisch geprägten Glauben festhalten. Anders als in Afghanistan, Iran oder manchen Gegenden Pakistans hat sich der Sufismus in Kaschmir gegen die neue Ideologie behauptet.
    Der Schrein liegt auf einem einzelnen Berg, der als Vorsprung des Himalaya in den Wularsee ragt, den höchstgelegenen See Südasiens. Auf dem Gipfel kommt alles zusammen, was Kaschmirs Kultur und Anziehung ausmacht, ein gewaltiges Erleben der Natur und der Religion, unterhalb des Schreins die riesige Wasserfläche wie ein grünblaues Ölgemälde, im Tal die prallen Wiesen und Wälder, ringsum die Gletscher, aus dem Schrein der Gesang eines berückend traurigen Chors.
    Anderen Gläubigen folgend, trete ich zunächst in eine kleine Moschee etwas abseits des eigentlichen Heiligtums. Als ich nachdem Gebet herauskomme, singt der Chor nicht mehr. Ich gehe
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