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Ausnahmezustand

Ausnahmezustand

Titel: Ausnahmezustand
Autoren: Navid Kermani
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uns auf die Wiese. Samir hat früher in der U 19 von Kaschmir mitgespielt. Was die Armee alles getan hat – Durchsuchungen, Erschießungen, Vergewaltigungen, die immer gleichen Berichte; jeder hat hier eine Schwester, einen Vater, einen Sohn, den es getroffen hat. Samir zeigt mir seine Narben. Aber es stimme, jetzt bemühten sich die Inder, Vertrauen zurückzugewinnen, auch die Armee selbst. Die Regierung habe ein paar Entwicklungsprogramme aufgelegt, soziale Einrichtungen eröffnet, ein wenig Geld in die Schulen investiert.
    – Aber wenn jemand drei Söhne durch Armeekugeln verloren hat, wird er den Indern nicht mehr vertrauen, meint Samir.
    Er habe die Hoffnung auf Freiheit nicht aufgegeben, doch müsse man schließlich auch leben, die Kinder ernähren. Hätten sich Anfang der neunziger Jahre alle jungen Leute der Stadt für den Widerstand engagiert, so seien es heute nur noch fünf Prozent. Sein Freund Riaz hält selbst diese Zahl für übertrieben:
    – Hier wollen hundert Prozent der Leute nur noch Frieden.
    – Vielleicht wird es der nächsten Generation gelingen, die Freiheit zu erlangen, hofft Samir, aber Riaz fragt:
    – Willst du etwa deinen Sohn kämpfen sehen?
    In der Abenddämmerung nimmt Samir mich in sein Dorf mit, einst eine Festung der Islamisten. Besuch beim Ältesten, einemGreis mit Stoffmütze und weißem Rauschebart, Wangen und Oberlippe rasiert wie bei einem ostfriesischen Fischer, der so liebenswürdig ist wie der Weihnachtsmann und als einziger an diesem langen Tag dem bewaffneten Widerstand noch das Wort redet. Kalifat und Demokratie wünscht er sich, so ähnlich wie in Saudi-Arabien.
    – Aber in Saudi-Arabien gibt es doch kein Kalifat und schon gar keine Demokratie, bemerke ich.
    – Ja, also nicht ganz wie in Saudi-Arabien, so ähnlich.
    Sein Islambild sieht für die Frauen die Burka vor, die in seinem Dorf keine einzige Frau trägt, nicht einmal ein Kopftuch, nicht einmal die Frauen in seinem eigenen Haus, die mich anders als meine indischen Zimmernachbarinnen auf dem Hausboot mit einem freundlichen Lächeln begrüßen.
Hausboot 5
    Die beiden Frauen nebenan quatschen und quatschen. Den Übergang zum Luftholen stelle ich mir bei ihnen wie beim Staffellauf vor, so, daß immer jemand redet. Zwischen den Sätzen haben sie jedenfalls keine Zeit zu atmen. Laut sind sie nicht, aber eben auch nicht so melodiös wie ein Wasserfall. Worüber reden sie nur? schimpfe ich in Gedanken: Was haben sie denn heute schon erlebt, Ausflug mit Kindern und einem wortkargen Mann zu einem der Moghul-Gärten, Fahrt mit der Schikara. Viel würde ich geben für eine fünfminütige Simultanübersetzung.
Die Mutter
    Am 18. August 1990 übernachtete Jawed Ahmad Ahangir, Schüler der zehnten Klasse, bei seinem Cousin in der Stadt, mit dem er für das Examen lernte. Gegen drei schlugen Soldaten an die Tür und riefen: Jawed, ist hier ein Jawed? Der Onkel öffnete das Fenster,auch Jawed Ahmad schaute hinaus: Ich bin Jawed. Soldaten zerrten ihn aus dem Fenster und schlugen auf ihn ein. Umsonst die Schwüre der Familie, daß der Junge nichts mit dem militanten Widerstand zu tun habe, ohnehin viel zu jung sei und vor dem Examen stünde. Später stellte sich heraus, daß im Nachbarhaus ein Militanter namens Jawed Ahmad Batt wohnte. Parweena Ahangir hat ihren Sohn nie wiedergesehen.
    Mit ihrem Mann, einem einfachen Bauern, zog sie von Kaserne zu Wache, von Wache zu Behörde, von Behörde zu Ministerium. Einmal hieß es tatsächlich, Jawed Ahmad sei festgenommen worden und liege derzeit in einem Militärkrankenhaus. Erfolglos fragte sich Parweena Ahangir von Krankenhaus zu Krankenhaus durch. 1994 gründete sie mit anderen Angehörigen vermißter Söhne eine Selbsthilfegruppe, der heute sechshundert Familien angehören. Das ist keine
fancy
NGO mit Computern und jungen, englischsprachigen Aktivisten, die wissen, wie man Öffentlichkeit und Gelder – manchmal nur Gelder – akquiriert. An den Ausläufern Srinagars, kurz vor dem Flughafen, ein zwölf Quadratmeter großes Zimmer in einem heruntergekommenen Hinterhaus, die Wände vor einer Ewigkeit giftgrün gestrichen, bis auf einen Schreibtisch aus Metall und ein paar Stühle keine Möbel – dort sitzt Parweena Ahangir, von dort arbeitet sie, wie sie sagt, vierundzwanzig Stunden am Tag daran, ihren und die anderen Söhne zu finden, die der Krieg verloren hat, eine so traurige wie entschlossene Frau, die unter ihrem gelben Kopftuch älter aussieht als ihre fünfundvierzig
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