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Ausländer

Ausländer

Titel: Ausländer
Autoren: Baumhaus
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zurückzugeben. Doch der Aufseher, der das Essen austeilte, hatte die Angewohnheit, jeden Jungen zu schlagen, der sich beschwerte. So war das im Waisenhaus. Gab man Anlass zu Ärger oder beschwerte sich über etwas, wurde man verprügelt. Die Jungen lernten das schnell.
    Nicht geschlagen wurde man einzig dafür, grausam gegenüber anderen Kindern zu sein. Das Drangsalieren anderer schien die Erwachsenen, die dort arbeiteten, nicht im Geringsten zu stören. Größere Kinder stahlen den kleineren das Essen. Die Ängstlicheren und die Jungen, die einen Arm, ein Bein oder ein Auge verloren hatten, wurden unablässig gehänselt. Wenn eines der Kinder im Schlafsaal ein Buch las, rissen die anderen es ihm aus der Hand und warfen es im Raum herum.
    Piotr konnte nicht fassen, wie er in kaum einer Woche ausder Geborgenheit und Sicherheit seines Zuhauses in diesen Dreck und dieses Elend geraten war. Das alles kam ihm vor wie ein entsetzlicher Albtraum. Eine seltsame Trauer betäubte ihn, hüllte ihn ein wie ein Kokon, und er fragte sich, ob er je wieder würde lächeln können.
    Warschau lag in Ruinen. Die Belagerung, die Straßenkämpfe und vor allem die Bombardierung 1939 hatten tiefe Narben hinterlassen. Jetzt, zwei Jahre später, hing immer noch ein schwacher Geruch nach Ziegelstaub, undichten Gasleitungen und geborstenen Abwasserrohren über der Stadt und setzte sich in den Kehlen der Menschen fest. Die durch die Kämpfe zerstörten Straßenlaternen standen windschief und nutzlos herum und warteten auf ihre Reparatur. Die Straßen hatte man natürlich freigeräumt, und auch die Trambahn fuhr wieder. Überall sah man deutsche Verkehrszeichen und Wehrmachtsfahrzeuge. Die Straßen waren umbenannt worden. Die Ujazdowski-Allee hieß nun Siegesstraße. Polnische Autos gab es keine mehr. Die Polen mussten mit der Trambahn oder einem Pferdekarren vorliebnehmen.
    Tagsüber streifte Piotr durch die Straßen. Die Kinder im Waisenhaus konnten nach Belieben kommen und gehen. Niemand kümmerte es, was sie taten.
    Piotr mochte Warschau. Er war zuvor schon zweimal mit seinen Eltern hier gewesen. Die Gebäude faszinierten ihn immer noch, besonders die polnische Niederlassung der Versicherungsgesellschaft Prudential am Napoleon-Platz, die mit ihren siebzehn Stockwerken das höchste Gebäude Polens war. Jetzt war es mit hässlichen Narben überzogen, und die meisten Fensterscheiben waren zerbrochen.
    Die Menschen hier sahen grau, ausgemergelt und geknechtet aus. Ihre Museen und Galerien waren geschlossen worden, und sogar bestimmte Parkanlagen durften sie nicht mehr betreten. So war der Zugang zum Łazienki-Park nur Deutschen gestattet. Der Ujazdowski-Park hingegen war für die Polen reserviert, und an sonnigen Wochenenden tummelten sich dort die Menschen wie eh und je.
    Aber die Polen wirkten verstört. Sie klammerten sich ans Leben und versuchten auf ihren schäbigen Märkten verzweifelt, alles, was nur ein wenig Wert besaß, gegen eine Handvoll Nahrungsmittel zu tauschen. Nicht wenige humpelten an Krücken; manche, denen ein Bein fehlte, waren noch nicht einmal so alt wie Piotr. Musiker spielten auf den Straßenmärkten, fiedelten auf Geigen oder bearbeiteten quietschende Akkordeons, dankbar für jede noch so kleine Münze.
    Die deutschen Soldaten waren überall – diejenigen, die Urlaub hatten, mit Feldmützen, die Diensthabenden mit Helm und Gewehr. Sie behandelten die Einheimischen mit beiläufiger Brutalität, besonders die Juden, die jetzt an ihren Armbinden mit dem gelben Stern leicht zu erkennen waren. Die Soldaten traten den Juden gern in den Hintern. Sie sollten sich schnell wieder in ihr überfülltes, stinkendes Ghetto in der Chlodna-Straße verziehen. Piotr spähte aus den Fenstern der Trambahn, wenn sie durch das Ghetto ratterte, und fragte sich, ob man die Jungen aus seinem Dorf wohl hierhergebracht hatte. Wie er hatten sie ihr Zuhause verloren und vielleicht auch ihre Eltern. Und selbst in seinen dunkelsten Stunden hatte Piotr so eine Ahnung, dass das Schicksal zu diesen Jungen noch viel grausamer gewesen war als zu ihm.

Kapitel sechs
    Berlin
31. August 1941
    Professor Franz Kaltenbach hatte das Gefühl, alles entwickle sich nach Wunsch. Es war einfach einer von diesen Tagen, an denen alles wie von selbst zu laufen schien. Draußen vor seinem offenen Fenster im Kaiser-Wilhelm-Institut für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik im Berliner Stadtteil Dahlem-Dorf flutete Sonnenlicht durch die breite, baumgesäumte
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