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Ausländer

Ausländer

Titel: Ausländer
Autoren: Baumhaus
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konnten sie den Geschützdonner des Artilleriefeuers im Osten hören. Die Sowjets rückten näher. Piotrs Furcht war nun so groß, dass er nachts kaum noch schlief und sich tagsüber elend fühlte, weil ihm die Angst wie in einem Albtraum die Brust zuschnürte.
    Es kursierten wilde Gerüchte, wonach starke französischeVerbände angeblich über die deutsche Westgrenze Richtung Berlin vorstießen. Aber im Radio wurde nichts dergleichen berichtet. Dann hörten die Brucks, dass die polnische Armee vor Warschau Boden gutgemacht habe und die Nazis jetzt auf dem Rückzug seien. Doch wenn dies stimmte, würde das bedeuten, dass es niemanden mehr gäbe, der die Russen aufhalten könnte. Wie das Gerücht über die Franzosen erwies sich jedoch auch dieses als falsch. Die Brucks konnten aufatmen.
    Als im Rundfunk verkündet wurde, die Belagerung Warschaus sei beendet und Polen habe kapituliert, herrschte in der Familie große Freude. Außerdem hieß es, der sowjetische Vorstoß sei am Fluss Bug zum Stillstand gekommen, nur zwanzig Kilometer von ihrem Hof entfernt. »Jetzt sind wir sicher«, sagte Herr Bruck und umarmte seine Frau und seinen Sohn. Piotr sah Tränen in seinen Augen. So hatte er seinen Vater noch nie erlebt.
    Drei Tage später trafen deutsche Soldaten auf Motorrädern im Dorf ein; auf den Beiwagen waren Maschinengewehre montiert. Danach begannen Leute spurlos zu verschwinden. Das Gefühl von »Sicherheit« erwies sich als trügerisch. Es gab auch entsetzliche Gerüchte über Berge von Leichen in den Wäldern, übersät von Fliegen und madenzerfressen.
    Piotr fragte seinen Vater danach, doch der schüttelte nur den Kopf. »Das Geringere von zwei Übeln«, sagte er. »Die Deutschen veranstalten ihr Großreinemachen.« Das war eine Redewendung, die sein Vater – wie Piotr wusste – in einer Sendung des Nazi-Rundfunks aufgeschnappt hatte. »Wenn sie jemanden umgebracht haben, dann wahrscheinlich Kommunisten. Diese Verräter haben kein Mitleid verdient.«
    Auch der Schulmeister und der Dorfpfarrer waren plötzlich verschwunden.
    »Sie haben sie wahrscheinlich nur zum Verhör mitgenommen«, meinte Herr Bruck. »Um sicherzugehen, dass sie keine Kommunisten sind.«
    »Aber was ist mit den jüdischen Jungen im Dorf?«, wollte Piotr wissen. Seine Eltern verstummten. Aber die Mutter begann zu weinen. »Wir wissen nicht, was mit ihnen geschehen ist«, sagte sein Vater leise. »Ich habe gehört, viele der Juden seien zusammengetrieben und nach Warschau gebracht worden. Ich weiß nicht, warum die Deutschen sie alle an einem Ort haben wollen.«
    Nach einer anfänglichen Auseinandersetzung mit deutschen Soldaten, bei der Piotrs Vater fast erschossen worden wäre, weil er von den Soldaten verlangt hatte, seine Landarbeiter mit mehr Respekt zu behandeln, wurden die Brucks rasch als deutschstämmig eingestuft. Sie durften sogar ihr Radio behalten, während die Geräte all ihrer polnischen Nachbarn konfisziert wurden.
    Im Oktober jenes Jahres wurde der gesamte westliche Teil Polens – Schlesien, Pommern, Łódź – von Deutschland annektiert. Herr Bruck verfluchte sein Pech. Ihm wäre die Angliederung gerade recht gekommen. Stattdessen lebten die Brucks jetzt in einem Teil Polens, der die Bezeichnung Generalgouvernement erhielt. Diejenigen Polen, die aus den von den Deutschen besetzten Landstrichen vertrieben worden waren, suchten Zuflucht in Warschau oder jeder anderen Stadt, die sie aufnehmen wollte. Herr Bruck wurde ständig von Neuankömmlingen nach Arbeit gefragt, und bald hatte er mehr Landarbeiter, als er eigentlich benötigte. »Manche haben nicht die leiseste Ahnung von Landwirtschaft«, sagte er. »Es gibt sogar einen, der früher Buchhalter war.« Dieser Mann konnte sich dadurch nützlich machen, dasser die Konten der Familie in Ordnung brachte. Er verrichtete diese Arbeit in der Küche, froh darüber, nichts mit Äckern und Kühen zu tun zu haben.
    Doch es passierten noch seltsamere Dinge. In den großen und kleinen Städten wurden, wie man hörte, sämtliche Universitäten, Schulen, Museen und Bibliotheken geschlossen. Dann wurde den noch verbliebenen Juden befohlen, einen gelben Stern zu tragen. »Lieber die Nazis als die Sowjets« – an dieser Parole hielt Herr Bruck hartnäckig fest. Aber Piotr merkte, dass seine Eltern alarmiert waren.
    Nach den Turbulenzen der ersten Monate und nachdem die Polen aus dem Westen Wohn- und Arbeitsstätten gefunden hatten, beruhigte sich die Lage jedoch. Herr Bruck hatte stets
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