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Ausländer

Ausländer

Titel: Ausländer
Autoren: Baumhaus
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ihn in die Arme. Als er aufgehört hatte, sich zu übergeben, nahmen sie ihn mit zu sich nach Hause.
    Nachdem auch das Zittern aufgehört hatte, wollte Piotr zurück auf den Hof. Was sonst hätte er tun können? Einer der Männer begleitete ihn, und Piotr versuchte, nicht das demolierte Auto anzusehen, als sie daran vorbeikamen. An der Zufahrt zum Hof scheuchte sie ein deutscher Soldat davon. »Aber das ist mein Zuhause«, protestierte Piotr. Der Soldat schlug ihn kurzerhand mit der flachen Seite seines Gewehrkolbens zu Boden. »Der Hof ist ab sofort Eigentum der deutschen Wehrmacht«, sagte er. »Und jetzt verschwinde, bevor ich dich erschieße.«
    Der Landarbeiter hielt sich zurück. Einzugreifen hätte bedeutet, sein Leben zu riskieren. Aber Solveig tauchte von irgendwoher auf und rannte zornig knurrend auf den Soldaten zu. Ohne zu zögern legte der Mann sein Gewehr an und schoss der Hündin in den Kopf.
    Piotr wollte zu Solveig laufen, aber der Landarbeiter hielt ihn am Arm fest. »Weg hier, bevor er uns erschießt«, flüsterte er ängstlich. Ein Stück vom Hof entfernt setzten sie sich an den Straßenrand. Dort weinte Piotr, bis er keine Tränen mehr hatte. Dann gingen die beiden gemeinsam ins Dorf zurück.
    Die zwei Landarbeiter waren Brüder und lebten zusammen in der Kate ihrer Familie. Sie waren freundlich zu Piotr, doch sie konnten es sich nicht leisten, ihn lange bei sich zu behalten. Nach einigen Tagen verständigten sie die Behörden, woraufhin Piotr in das Waisenhaus nach Warschau gebracht wurde.
    Am Tag seiner Abreise suchte ihn der Dorfpolizist auf. Seine Eltern seien von einem Panzer getötet worden, sagte er. Er seiohne zu bremsen in das Auto hineingefahren. Seine Eltern seien sofort tot gewesen. Piotr schüttelte vor Abscheu den Kopf.
    In der ersten Nacht im Waisenhaus kreisten seine Gedanken unablässig um die letzten Augenblicke im Leben seiner Eltern. Das Dröhnen der Militärfahrzeuge. Die plötzliche Erkenntnis, dass etwas Riesiges aus der Dunkelheit auf sie zurollte. Das entsetzliche Knirschen von Metall auf Metall. Piotr setzte sich schlagartig auf und versuchte das Würgen in seinem Hals zu unterdrücken, um nicht erbrechen zu müssen. Da legte sich eine schreckliche Enge um seine Brust, wie ein riesiges Bleigewicht. Er gab sich Mühe, nicht zu weinen. Wenn andere Kinder in jener Nacht weinten – und viele taten es –, beschimpften die anderen sie, endlich still zu sein.
    In den folgenden Nächten grübelte Piotr darüber nach, was mit ihm geschehen würde. Das Bett hatte eine zerschlissene Decke, aber weder Laken noch Bezug. Sein Kopfkissen war von einer abscheulich blassgelben Farbe, und auf einer Seite waren eingetrocknete Blutflecken zu sehen – zumindest hielt Piotr sie für Blutflecken. In manchen Nächten, wenn es kalt und regnerisch war, musste er in seinen Kleidern schlafen. Anfangs machte er sich Sorgen, dass er stinken würde. In Wyszków hatte er drei- oder viermal die Woche gebadet. Hier gab es für die Jungen immer dienstags eine kalte Dusche. Aber bald begriff er, dass es keine Rolle spielte. Alle im Waisenhaus trugen denselben Geruch an sich – den muffigen, an einen alten Spüllappen erinnernden Gestank der Armut, den er von den ärmsten Jungen in der Dorfschule kannte.
    Alle mussten sich mit einer einzigen Garnitur Kleidung zum Wechseln begnügen. Eine Wäscherei gab es nicht. »Man macht hier selbst seine Wäsche«, sagte der Junge im Nachbarbett.
    Das tat Piotr auch in der ersten Woche. Aber wenn es regnete, gab es keinen Platz zum Trocknen, und wenn die Sachen wieder trocken genug waren, um sie anzuziehen, stanken sie nach Moder. Einmal fand er ein Paar Socken nicht mehr, das er zum Trocknen aufgehängt hatte. Er meldete den Verlust der Frau, die für die Kleiderkammer des Waisenhauses zuständig war. Sie packte ihn am Ohr und zog ihn in ein kleines Zimmer, das mit muffigen Kleidern vollgestopft war. »Such dir ein Paar heraus, und lass dich hier nie wieder blicken«, sagte sie.
    Das Essen, das sie erhielten, hätte kaum gereicht, um einen Spatz am Leben zu erhalten. Zweimal täglich dünne Suppe, dazu altbackenes Brot. Manchmal widerlich rosafarbenes Hackfleisch, voller Knorpel und scharfer Knochensplitter, dazu Pellkartoffeln. Oft war das Brot mit grünem Schimmel bedeckt. Piotr schabte den Schimmel ab, bevor er es aß, andere Jungen beachteten den Schimmel überhaupt nicht. Als er das erste Mal verschimmeltes Brot bekam, war er kurz versucht, es
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