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Aus der Welt

Aus der Welt

Titel: Aus der Welt
Autoren: Douglas Kennedy
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Sätze, an die sie sich noch aus dem College erinnere – »dabei hatte ich Französisch nur im Nebenfach«. Aber mich erstaunt nicht, dass sie ausgerechnet diesen Satz im Gedächtnis behielt. Konfliktscheu, wie sie war, ignorierte sie das Chaos, in dem wir steckten, mit aller Vehemenz und nahm alles hin. Aus ihrer Sicht leben wir alle in einem feindlichen Universum und wissen nie, welche Schicksalsschläge uns noch bevorstehen. Deshalb bleibt uns nichts anderes übrig, als uns durchzuwursteln. Was spielt es da noch für eine Rolle, wenn man jeden Abend drei Wodka zu viel trinkt? Oder nicht ausspricht, welch unermessliche Trauer und Einsamkeit das eigene Leben durchdringen?
    À chacun son destin .
    Deshalb bäumte sich Mom auch nicht gegen ihr Schicksal auf, als ihr der Onkologe im Alter von einundsechzig Jahren mitteilte, dass sie Krebs im Endstadium hätte.
    »Es ist Leberkrebs«, sagte sie vollkommen gefasst, nachdem ich sofort nach Connecticut ins große Regionalkrankenhaus in Stamford gekommen war, in dem sie lag. »Das Dumme an Leberkrebs ist, dass er zu 99 Prozent unheilbar ist. Aber vielleicht ist das ja auch ein Segen.«
    »Wie kannst du nur so etwas sagen, Mom!«
    »Weil es etwas Beruhigendes hat, zu wissen, dass nichts getan werden kann, um mir zu helfen. Die Diagnose versagt mir jede Hoffnung – und bewahrt mich vor diesen furchtbaren lebensverlängernden Maßnahmen, die den Körper von innen auffressen. Sie nehmen dir den Überlebenswillen, aber am Ende retten sie dich doch nicht. Da ist es besser, ich schicke mich ins Unvermeidliche, Liebes.«
    Bei Mom traf das Unvermeidliche kurz nach ihrer Diagnose ein. Sie ging sehr pragmatisch und konsequent mit ihrem bevorstehenden Tod um. Nachdem sie alle Maßnahmen, die die Krankheit aufgehalten und ihr vielleicht noch ein halbes Jahr mehr geschenkt hätten, abgelehnt hatte, entschied sie sich für die Palliativmedizin: Eine ständige intravenöse Morphiumzufuhr würde die Angst und die Schmerzen auf ein hoffentlich erträgliches Maß reduzieren.
    »Was meinst du, ob ich auf meine alten Tage doch noch gläubig werde?«, fragte sie mich in einem ihrer lichteren Momente, als das Ende bereits absehbar war.
    »Wenn es dir hilft«, sagte ich.
    »Jessie – die Schwester, die mich vormittags pflegt – ist eine Art Pfingstlerin. Ich wusste gar nicht, dass es so was in Fairfield County überhaupt gibt. Wie dem auch sei, sie redet ständig davon, dass ich das ewige Leben haben werde, wenn ich Jesus als meinen Herrn und Heiland anerkenne. ›Überlegen Sie doch mal, Miss Howard‹, sagte sie gestern. ›Schon nächste Woche könnten Sie im Himmel sein!‹«
    Mom schenkte mir ein schelmisches Lächeln, das schnell wieder verflog, als sie mich fragte: »Was ist, wenn sie recht behält? Was, wenn ich Jesus anerkenne? Wäre das wirklich so schlimm? Ich war zu Lebzeiten schließlich auch immer vollkaskoversichert …«
    Ich senkte den Kopf, biss mir auf die Unterlippe und konnte ein Schluchzen nicht unterdrücken.
    »Noch lebst du, Mom«, flüsterte ich. »Du könntest sogar noch länger leben, wenn du Dr. Phillips erlauben würdest …«
    »Fang nicht schon wieder damit an, Liebes. Ich habe eine Entscheidung getroffen. À chacun son destin .«
    Doch dann wandte sie plötzlich das Gesicht ab und begann zu weinen. Ich hielt ihre Hand. Schließlich sagte sie: »Weißt du, was mir immer noch wehtut? Was ich nie vergessen kann …?«
    »Was?«
    »Weißt du noch, was du deinem Vater am Abend deines dreizehnten Geburtstags gesagt hast?«
    »Mom …«
    »Bitte versteh mich nicht falsch, aber du sagtest …«
    »Ich weiß, was ich gesagt habe. Aber das ist Jahre her und …«
    »Du sagtest: ›Ich werde niemals heiraten und Kinder kriegen‹, gefolgt von der Bemerkung, dass ›niemand wirklich glücklich ist ‹ …«
    Ich traute meinen Ohren kaum – und redete mir ein: Sie stirbt, sie steht unter starken Schmerzmitteln, hör nicht auf sie , obwohl ich wusste, dass sie einen ihrer seltenen klaren Momente hatte. Jahrelang hatten wir um den heißen Brei herumgeredet. Aber aus ihrer Sicht war es immer noch meine Schuld, dass mein Vater uns verlassen hatte.
    »Das hast du doch gesagt, Liebes, oder?«
    »Ja.«
    »Und dann, am nächsten Morgen, was war dann?«
    »Das weißt du ganz genau, Mom.«
    »Ich mache dir keine Vorwürfe, Liebes. Es gibt nur so etwas wie … na ja, Ursache und Wirkung. Und vielleicht … wer weiß …, wenn diese Worte nicht gefallen wären … Dann hätte dein
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