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Aus der Welt

Aus der Welt

Titel: Aus der Welt
Autoren: Douglas Kennedy
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laut auf und leerte seinen dritten Wodka Martini. Mom wurde blass, als sie merkte, was für eine unüberlegte Bemerkung sie soeben gemacht hatte. (»Meist rede ich schneller, als ich denken kann«, gestand sie mir einmal, nachdem sie damit herausgeplatzt war, dass sie und mein Vater seit vier Jahren keinen Sex mehr hätten.)
    Ein unangenehmes Schweigen entstand, das ich beendete.
    »Niemand ist wirklich glücklich.«
    »Jane, ich bitte dich …«, sagte Mom. »Du bist noch viel zu jung, um so zynisch zu sein.«
    »Nein«, meinte Dad. »Im Gegenteil: Wenn sogar Jane dieses nicht ganz unwichtige Detail begriffen hat, ist sie deutlich klüger als wir. Und du hast recht, Kind: Wenn du dir ein glückliches Leben wünschst, solltest du nie heiraten und Kinder bekommen. Aber du wirst beides tun.«
    »Don, ich bitte dich …«
    »Was?«, sagte er eindeutig zu laut, wie immer, wenn er betrunken war. »Soll ich sie etwa anlügen … obwohl sie die Wahrheit sagt?«
    Einige Gäste der benachbarten Tische starrten uns erneut an. Dad lächelte sein unschuldiges Lächeln, das er stets aufsetzte, wenn er sich danebenbenahm. Er bestellte einen vierten Martini. Mom zerknüllte ihre Serviette und sagte nur: »Ich fahre.«
    »Von mir aus gern«, erwiderte Dad. Der vierte Martini wurde gebracht, er prostete mir damit zu.
    »Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, mein Schatz. Auf dass du niemals eine Lüge leben musst …«
    Ich warf einen kurzen Seitenblick auf meine Mutter. Sie war in Tränen aufgelöst. Ich sah wieder zu meinem Vater hinüber. Sein Lächeln war noch breiter geworden.
    Wir aßen unser Abendessen auf und fuhren schweigend nach Hause. Am späten Abend – ich las noch im Bett – kam Mom in mein Zimmer. Sie ging neben mir in die Hocke, nahm meine Hand und sagte, ich solle nicht auf meinen Vater hören.
    »Du wirst glücklich werden, mein Schatz«, versicherte sie mir. »Ich weiß es einfach.«
    Ich schwieg, schloss die Augen und überließ mich dem Schlaf.
    Als ich am nächsten Morgen aufwachte, war mein Vater weg.
    Das erfuhr ich, als ich gegen elf nach unten kam. Die Schule ging erst in drei Tagen wieder los, und wie jeder frischgebackene Teenager hielt ich zwölfstündige Schlaforgien für eine hervorragende Methode, jener pubertären Überzeugung zu begegnen, die da heißt: Das Leben ist scheiße. Als ich in die Küche kam, sah ich, dass meine Mutter am Frühstückstresen saß. Sie hatte den Kopf gesenkt, ihr Make-up war verschmiert, und ihre Augen waren gerötet. Vor ihr im Aschenbecher lag eine brennende Zigarette. Eine weitere klemmte zwischen ihren Fingern. In der anderen Hand hielt sie einen Brief.
    »Dein Vater hat uns verlassen«, sagte sie, ganz sachlich, ohne jede Gefühlsregung.
    »Was?«, fragte ich, ohne den Sinn ihrer Worte richtig zu begreifen.
    »Er ist weg, und er kommt nicht mehr zurück. Hier steht alles drin.«
    Sie hielt den Brief hoch.
    »Das kann er unmöglich bringen«, sagte ich.
    »Und ob er das kann – er hat es bereits getan. Hier steht alles drin.«
    »Aber heute Morgen … Er war hier, als du aufgestanden bist.«
    Sie starrte in den Aschenbecher, während sie sprach.
    »Ich habe ihm Frühstück gemacht. Ihn zum Bahnhof gefahren. Ihm vorgeschlagen, am Samstag zu dem Flohmarkt in Westport zu fahren. Er meinte, er würde den 19:03-Zug nach Hause nehmen. Ich wollte wissen, ob er Lammkoteletts zum Abendessen mag. Er sagte: ›Gern … aber keinen Brokkoli.‹ Er kniff mich in die Wange. Ich bin zu A&P gefahren. Habe die Lammkoteletts gekauft. Kam nach Hause. Und fand das hier.«
    »Er hat den Brief also hierhin gelegt, bevor ihr zum Bahnhof gefahren seid?«
    »Als wir zum Wagen gingen, sagte er, er hätte seinen Parker-Kuli vergessen, und ging noch mal zurück ins Haus. Da muss er den Brief hingelegt haben.«
    »Darf ich ihn lesen?«
    »Nein. Das ist privat. Da stehen Sachen drin wie …«
    Sie verstummte und nahm einen langen Zug von ihrer Zigarette. Plötzlich sah sie mich an, und so etwas wie Wut wallte in ihr auf.
    »Wenn du nicht gesagt hättest, dass …«
    » Was? «, flüsterte ich.
    Sie nahm den Brief und las laut vor:
    Als Jane gestern Abend verkündet hat, dass ›niemand wirklich glücklich ist‹, kam mir mein Entschluss – über den ich viel nachgedacht und den ich jahrelang mit mir herumgetragen habe – gar nicht mehr so abwegig vor. Und als du ins Bett bist, saß ich noch länger im Wohnzimmer und stellte mir vor, dass ich bestenfalls noch fünfunddreißig Jahre leben werde
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