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Aus der Welt

Aus der Welt

Titel: Aus der Welt
Autoren: Douglas Kennedy
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«.
    Damals war er allgegenwärtig: Er trat in Talkshows auf, schrieb gelehrte, geistreiche Essays für die New York Review of Books und nahm mit konservativen Hardlinern an öffentlichen Diskussionsrunden teil.
    In gewisser Weise war ich bereits in David Henry verliebt, bevor ich in David Henry verliebt war. Als ich mich in Harvard für den Promotionsstudiengang bewarb, schrieb ich in dem meiner Bewerbung beigelegten Essay, wie sehr seine Sicht auf die amerikanischen Literatur- und Geisteswissenschaften meine eigene Arbeit beeinflusst hätte. Und dass die Doktorarbeit, die ich schreiben wollte – Die höllische Dualität: Gehorsam und Auflehnung in der amerikanischen Literatur – ein typisches David-Henry-Thema sei.
    Natürlich war mir klar, dass ich damit ein Risiko einging, weil ich bereits durchblicken ließ, welchen Doktorvater ich mir wünschte, bevor mich Harvard überhaupt genommen hatte. Aber ich war fest entschlossen, bei ihm zu studieren. Da ich das renommierte Smith College mit summa cum laude abgeschlossen hatte und von meinen dortigen Englischprofessoren wärmstens weiterempfohlen worden war, wollte ich Durchsetzungsvermögen beweisen.
    Es funktionierte. Man lud mich zu einem Gespräch mit dem Fakultätsvorsitzenden nach Cambridge ein. In letzter Minute erfuhr ich von seiner Sekretärin, dass ein anderes Fakultätsmitglied mit mir sprechen würde.
    Und so kam es, dass ich David Henry persönlich gegenübersaß.
    Das war 1995. Er war damals Anfang fünfzig, besaß aber immer noch jene markanten Gesichtszüge, die ihm seine Filmstar-Aura verliehen. Trotzdem fiel mir sofort auf, dass seine Augen dunkle Ringe aufwiesen, sie ließen ihn irgendwie traurig wirken. Ich wusste, dass er weiterhin Essays für Zeitschriften wie Harper’s und die New York Review of Books schrieb, allerdings nicht mehr so regelmäßig. Einem Artikel aus dem Boston Globe entnahm ich, dass er keinen zweiten Roman geschrieben hatte. Und dass seine seit Langem erwartete Melville-Biografie unvollendet war. Doch darin stand auch, dass er trotz seiner nachlassenden Bekanntheit als Schriftsteller und öffentlicher Intellektueller nach wie vor ein renommierter Professor sei, dessen Seminare stets überfüllt seien. Außerdem sei er einer der beliebtesten Doktorväter der Universität.
    Er war mir auf Anhieb sympathisch, weil er merkte, wie sehr ich mich bemühte, meine Nervosität zu verbergen, und mich sofort beruhigte.
    »Warum streben Sie nur so etwas Altmodisches und schlecht Bezahltes wie eine Universitätskarriere an, wo Sie doch da draußen in unserem neuen Goldenen Zeitalter so richtig absahnen können?«
    »Nicht alle möchten ein Geldhai sein«, erwiderte ich.
    David lächelte. »›Ein Geldhai‹. Typisch Theodore Dreiser, was?«
    »Ich erinnere mich noch an Ihre Kapitel über Dreiser in Der amerikanische Roman und an den Aufsatz im Atlantic , den Sie zum 70. Jahrestag des Erscheinens von Schwester Carrie geschrieben haben.«
    »Das erwähnten Sie bereits in Ihrer Bewerbung. Darf ich Sie trotzdem etwas fragen: Gefällt Ihnen Schwester Carrie ?«
    »Besser als Ihnen. Auch ich finde Dreisers Prosa teilweise unheimlich schwerfällig. Aber das trifft auch auf Zola zu – das Bedürfnis, dem Leser bestimmte Dinge mit dem Holzhammer beibringen zu wollen, kombiniert mit einer eher schlichten Psychologie. Ich teile auch Ihre Auffassung, was die Weitschweifigkeit Dreisers anbelangt, die unter anderem damit zu tun hat, dass er einer der ersten Romanciers war, die eine Schreibmaschine benutzten. Aber Dreiser als – wie haben Sie ihn gleich wieder genannt? – ›hochtrabenden Händler von Heftchenromanen‹ abzutun … Bei allem Respekt, aber da täuschen Sie sich.«
    Noch während ich das sagte, dachte ich: Was redest du da bloß? Aber David ließ sich durch meine Unverblümtheit weder beleidigen noch abschrecken. Im Gegenteil, sie schien ihm zu gefallen.
    »Nun, Miss Howard, gut zu wissen, dass Sie keine Arschkriecherin sind.«
    »Tut mir leid«, sagte ich. »Da habe ich die Grenze wohl eindeutig überschritten.«
    »Wie kommen Sie darauf? Sie werden schließlich in Harvard promovieren, wo man von Ihnen erwartet, dass Sie ein unabhängiger Geist sind. Und da ich nicht mit Schleimern arbeite …«
    David beendete seinen Satz nicht, sondern lächelte nur und genoss meine amüsierte Miene.
    »Professor Henry, Sie sagten, dass ich in Harvard promovieren werde. Aber meine Bewerbung wurde noch gar nicht angenommen.«
    »Dann sage ich es Ihnen
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