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Aus der Welt

Aus der Welt

Titel: Aus der Welt
Autoren: Douglas Kennedy
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mit einer eigenen Karte. Ich fasste mich kurz:
    Du hast eine wunderbare Familie. Alles nur erdenklich Gute fürs neue Jahr. Liebe Grüße …
    Natürlich hätte ich ihm am liebsten tausend Fragen gestellt: Bist du glücklich? Gefällt dir deine Arbeit, deine neue Heimat, dein Leben? Und denkst du noch manchmal an mich, an uns, daran, wie unser jetzt völlig unabhängig voneinander verlaufendes Leben auch hätte aussehen können, wenn …?
    Wenn. Das überstrapazierteste Wort überhaupt, vor allem in Kombination mit hätte .
    Wenn du nicht nach Irland gegangen wärst, hätte ich mich nicht mit David zusammengetan.
    Aber ich wollte mit David zusammen sein … auch wenn ich von Anfang an wusste, dass wir keine Zukunft hatten. Denn mit David zusammen zu sein half mir, mit unserer Beziehung abzuschließen.
    Zumindest redete ich mir das damals ein.
    2
    »Das ist ein Spiel mit dem Feuer«, sagte David.
    »Nur, wenn wir nicht aufpassen«, sagte ich.
    »Wenn das rauskommt …«
    »Redest du nach dem Sex immer so daher …?«
    »Ich habe nicht die Angewohnheit …«
    »Mit deinen Studentinnen zu schlafen?«
    »Genau.«
    »Hast du noch nie …?«
    Schweigen. Dann: »Einmal. Damals, Anfang der Siebziger, als man noch nicht so …«
    »Politisch korrekt war?«
    »Ich bin schließlich nicht lebensmüde.«
    »Ist das hier lebensmüde?«
    »Hoffentlich nicht.«
    »Ein bisschen musst du mir schon vertrauen, David. Ich weiß, was ich tue.«
    »Bist du dir sicher?«
    »Mal abgesehen von dieser einen Studentin, damals in den Siebzigern«, sagte ich und wechselte das Thema, »warst du Polly immer treu?«
    »Wohl kaum … wenn man bedenkt, dass wir keinen Sex mehr haben, seit Reagan das erste Mal Präsident wurde.«
    »Und deine längste Affäre dauerte …?«
    »Du stellst aber viele Fragen.«
    »Ich möchte einfach alles über den Mann wissen, mit dem ich mich einlasse.«
    »Du weißt schon sehr viel über mich.«
    Das stimmte – schließlich hatte ich das letzte halbe Jahr mit David an meiner Dissertation gearbeitet. In meiner ersten Zeit in Harvard erwies er sich als fantastischer Berater: Er war sensibel, aber nicht sentimental; ein echter Intellektueller, aber kein Pedant; sehr clever, aber nie besserwisserisch. Ich war von Anfang an hin und weg von ihm, wusste aber auch, dass ich mich nicht mit meinem Doktorvater einlassen durfte. Deshalb flirtete David während der ersten Monate in Cambridge auch nicht mit mir. Bis Thanksgiving hatten wir tatsächlich ein reines Lehrer/Schüler-Verhältnis. Dann erfuhr ich aus Dublin, dass meine Beziehung zu Tom beendet war. Ich tauchte für eine Woche unter, ließ Seminare ausfallen, sagte Tutorien ab und verließ das Haus nur noch, um Lebensmittel zu kaufen. Ich fühlte mich hundeelend und tat mir unheimlich leid. Ständig ertappte ich mich dabei, an den unmöglichsten Orten in Tränen auszubrechen, zum Beispiel im Supermarkt oder wenn ich Bücher in der Bibliothek zurückgab. Ich habe in der Öffentlichkeit noch nie gern Gefühle gezeigt. Vielleicht wegen jenes Morgens nach meinem dreizehnten Geburtstag, als Mom mir die Schuld daran gab, dass Dad gegangen war. Obwohl ich nach oben rannte und mich in mein Zimmer zurückzog, gelang es mir nicht, über ihre ungeheuerliche Anschuldigung zu weinen. Wusste ich schon damals, dass Weinen ein Kontrollverlust ist? Natürlich hatte ich auch von Dad gelernt, alle Probleme unter den Teppich zu kehren, »denn sonst sehen die anderen deine Schwächen und nutzen sie aus«. Ich hielt mich an diese Devise – vor allem, als ich ständig mit Mom im Clinch lag –, hatte aber insgeheim mit riesigen Minderwertigkeitskomplexen zu kämpfen. Wenn ich enttäuscht wurde oder einen Verlust verkraften musste, versuchte ich immer, mir nichts anmerken zu lassen – vor lauter Angst, was die anderen denken könnten, wenn sie mich in diesem Zustand sehen würden. Aber tief in meinem Innern heilten die Wunden nie, sodass ich Toms Verlust umso schmerzhafter empfand. Wenn dich der eigene Vater im Stich lässt und dich die Mutter enttäuscht, suchst du irgendeinen Halt. Und wenn du den verlierst …
    Nun, mir blieb nichts anderes übrig, als eine Weile abzutauchen.
    Als ich also eine Nachricht hinterließ und einen dritten Termin mit David absagte, rief er bei mir zu Hause an und fragte, ob irgendetwas los sei.
    »Eine fiese Grippe«, erklärte ich.
    »Waren Sie beim Arzt?«, wollte er wissen.
    »So eine Grippe ist das nicht«, hörte ich mich sagen.
    Unseren nächsten Termin
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