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August

August

Titel: August
Autoren: Christa Wolf
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zustecken wollen, weist er zurück, ihre Danksagungen nimmt er an. Frau Richter und er winken sich zum Abschied zu. August muß den Bus noch in die Garage beim Busbahnhof fahren, er übergibt ihn dem Techniker, der ihn nach technischen Mängeln befragt. Es gab keine, sagt er. Okay, sagt der Kollege. Er scheint sich auf die Aussage von August zu verlassen.
    Sein alter VW steht auf dem Parkplatz neben dem Busbahnhof, ganz zugeschneit. August muß ihn erst von der nassen Schneedecke befreien, ehe er einsteigen und losfahren kann, sich einreihen in den starken Berufsverkehr Richtung Osten, eine Strecke, die er im Schlaf kennt. Heute wird er länger brauchen als sonst, viele Fahrer können sich auf die glitschige Fahrbahn nicht einstellen, immer wieder stellt sich einer quer, immer wieder gibt es kleine Verkehrshindernisse. Bei diesem Wetter, um diese Tageszeit ist die Stadt schmutzig und abweisend.
    So wie auch das Schloß und seine Umgebung bei solchem Wetter deprimierend waren, so drückte die Oberschwester es aus. Da muß man ja rammdösig werden, sagte sie. Da ist es ja kein Wunder, wenn die Leute einem wegsterben, einfach weil sie keine Lust zum Leben mehr haben in dieser Finsternis. Bei solchem Wetter, daran erinnert sich August noch genau, ist auch die Mutter von Klaus und Anneliese gestorben, die Sargträger trugen sie acht
los mit den Füßen zuerst aus dem Haus und mußten sich gegen das Schneetreiben durchkämpfen zur Kapelle, und wahrscheinlich ist niemand gegen Mitternacht hingegangen und hat den Sarg berührt, bei diesem Sauwetter. Das meinte jedenfalls Herr Grigoleit, der Klaus und Anneliese tröstete. Die Zeit heilt alle Wunden, sagte er, und sie seien noch so jung, das Leben liege noch vor ihnen, und nicht umsonst habe der liebe Gott uns das Vergessen geschenkt. Eines aber sollten sie wissen: Nie und nimmer werde ihre Mutter in die Ewigkeit eingehen, ohne sich vorher von ihren Kindern zu verabschieden. Sie sollten darauf achten, was in der dritten Nacht nach ihrem Tod geschehen werde.
    In der dritten Nacht, in der Geisterstunde, schlug es dreimal dumpf gegen die Fußteile der Betten von Klaus und Anneliese. Herr Grigoleit war hoch zufrieden. Jetzt hat sie sich verabschiedet, sagte er. Jetzt sollt ihr sie in Ruhe ziehen lassen.
    Die Oberschwester faßte sich an den Kopf, aber sie schwieg, und auch die Lilo schwieg, obwohl sie zornig war, das spürte August genau. Ihm fällt auf, daß er in diesen alten Geschichten blättern kann wie in einem Bilderbuch, nichts ist vergessen, kein Bild verblaßt. Wenn er will, sieht er alles vor sich, das Schloßinnere, die breite geschwungene Treppe, jeden einzelnen Raum, die Bettenaufteilung in dem Saal, in dem die Lilo lag. Seit die Gabi weg war, wurde dort nicht mehr gesungen, seit Klaus und Anneliese in ein reguläres Kinderheim verlegt waren, machte es keinen Spaß mehr, wenn die Lilo abends nur noch für ihn und Ede eine Geschichte erzählte oder ein Lied sang. Auch ihr machte es keinen Spaß, das sah
August. Zum Frühjahr hin wurde auch Ingelore entlassen, sie war nicht geheilt, aber ihre Eltern zogen in eine entfernte Stadt und nahmen sie mit. Und August krampfte sich das Herz zusammen, als er die Oberschwester zu der Lilo sagen hörte, ihre Blutsenkung sei ja nun vollkommen normal, wie bei einer Gesunden. Er konnte sich ausrechnen, was das hieß.
    August ist in Marzahn angekommen, hier wohnt er seit mehr als zwanzig Jahren, ihm gefällt es, er denkt nicht daran, wegzuziehen wie viele seiner Nachbarn. Zwei Zimmer, Küche, Bad, das hat ihnen beiden gereicht, Trude und ihm. Der kleine Balkon. Und der Blick aus dem Küchenfenster über eine weite Fläche bis zum Waldrand. Er weiß, wo er sein Auto abstellen kann. Er kennt in seinem Treppenhaus jede Stufe bis zum zweiten Stock, wo er wohnt.
    Die Lilo hat ihm noch ihre Adresse gegeben, als sie sich verabschiedete. Er hat ihr gesagt, sie solle ihn nicht vergessen. Nein, hat sie gesagt und ihn umarmt. Ich vergeß dich nicht, August. Der klapprige Krankenwagen, der neue Patienten gebracht hatte, hatte sie mitgenommen zur Bahnstation. Das letzte, was er von ihr sah, war ihr Arm, der winkte aus dem Autofenster mit dem blauen Schal, den sie immer um den Hals getragen hatte. Und August dachte, nun würde er im Leben keine Freude mehr haben.
    Er steckt den Schlüssel in seine Wohnungstür. Es ist nicht gut, in eine leere Wohnung nach Hause zu kommen. Man gewöhne sich daran, hatten sie ihm gesagt, als Trude gestorben war.
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