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August

August

Titel: August
Autoren: Christa Wolf
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aber das beschäftigte ihn nicht, weil jeder, den er in dieser Zeit traf, irgendeinen Kummer hatte. Das muß man mit sich alleine abmachen, sagte Herr Grigoleit, dessen Bett dem von August gegenüberstand, der auch aus Ostpreußen kam und so etwas wie sein Onkel hätte sein können. Er hatte einen buschigen Schnauzbart auf der Oberlippe, der seine Gutmütigkeit betonte.
    August sieht die Personen, die er damals getroffen hat,
deutlich vor sich, deutlicher als die meisten, die ihm in seinem langen späteren Leben begegnet sind. Daß er sich ganz genau an Lilo erinnert, ist selbstverständlich. Aber wann er sie zum ersten Mal gesehen hat, das weiß er nicht mehr.
    Es muß im Herbst gewesen sein, es könnte beim Essen im Rittersaal gewesen sein, so nannten die Kranken den großen Eßraum, an dessen Wänden noch Bilder der Vorfahren des geflohenen Schloßherren hingen, die frühesten in Panzerhemd und Ritterhelm. Dort trafen sich alle Insassen des Schlosses Punkt zwölf zum Mittagessen, falls man das, was ihnen vorgesetzt wurde, so nennen konnte. Dort könnte er Lilo zum ersten Mal gesehen haben. Was ja nicht heißen muß, daß sie ihm gleich aufgefallen war. Sicher saß sie in der Gruppe aus dem Frauensaal wie immer neben Ingelore, die sie kannte. Kunststück, sagte die Oberschwester, bei der hat sie sich ja angesteckt. Die saßen doch in der Schule nebeneinander und steckten die Köpfe über den Büchern zusammen. Und die Ingelore ist ja nun mal hoch infektiös. Die Oberschwester gebrauchte gerne Wörter aus der Fachsprache der Medizin und hob sich dadurch von der Masse der Schloßbewohner ab, die von Tuten und Blasen keine Ahnung hatte. Aber die Lilo trägt ja der Ingelore nichts nach. Ist ja auch alles Schicksal heutzutage. Kann ja keiner was für.
    Die paar Kinder, die in die Mottenburg eingewiesen waren, weil sie etwas so Rätselhaftes hatten wie »Hilusdrüsen-Tbc« – eine Krankheit, von der August später nie wieder etwas gehört hat –, saßen zwischen der Frauengruppe und der Gruppe aus dem Männersaal an dem langen Tisch. August weiß noch, daß er zwischen Klaus und Ede
saß, aber vergeblich versucht er sich zu erinnern, was es eigentlich zu essen gegeben hat. Viel kann es nicht gewesen sein, richtig satt wurden sie nie, immerhin gab es eine Köchin, Kartoffeln und Rüben und Möhren und Kohl muß sie wohl gehabt haben, Fettaugen schwammen nicht auf der Suppe, und ob es jemals Fleisch gab, ist zweifelhaft.
    Die Lilo fiel ihm zum ersten Mal auf, als sie sich mit der Oberschwester stritt. Die wollte den Frauen im Frauensaal verbieten, ihre trockenen Brotschnitten auf dem kleinen Bullerofen zu rösten, der an der Stirnseite des großen Raumes stand. Dieses Verbot sah die Lilo nicht ein, sie fand es übertrieben und sagte der Oberschwester das ins Gesicht. Die war verantwortlich für Ordnung und Sicherheit in allen Räumen, aber Lilo sagte, diese klunschigen Brotscheiben könne man nur essen, wenn sie ein bißchen angeröstet waren. Daß es keine Butter gab, um sie zu bestreichen, verstand sich ja von selbst, auch, daß die Ration Rübenmarmelade schon beim Frühstück aufgebraucht war. Trotzdem! rief die Oberschwester, und Lilo drehte sich einfach um und ging in den Frauensaal. Die Brote wurden weiter geröstet, und August hatte den ganzen Auftritt von der Tür des Männersaales aus beobachtet, die im Flur der Tür des Frauensaales gegenüberlag. Bis jetzt war es ihm nicht in den Sinn gekommen, daß man der Oberschwester widersprechen könnte.
    August fand die Lilo schön, und das findet er heute noch auf seinem Fahrersitz in dem Reisebus, der eine Gruppe quietschvergnügter Senioren von Prag nach Berlin bringt. Sie wollen gar nicht hören, was die Reisebegleiterin, Frau Richter, ihnen über das Elbsandsteingebirge er
zählen will, sie wollen sich lieber die Mitbringsel zeigen, die sie in Prag günstig eingekauft haben, und dann wollen sie singen. Herr Walter gibt den Ton an, er steht sogar auf in seiner ersten Reihe, dreht sich um und dirigiert den Chor, der aus vollem Halse »Auf der Lüneburger Heide« singt. August hat lieber Ruhe in seinem Bus, am liebsten ist es ihm, wenn die Fahrgäste schlafen. Die Straße, die neben der Elbe herläuft, hat er sehr gerne, in jeder Jahreszeit und bei jedem Licht. Die Sänger hinter ihm sehen nichts davon. Er wechselt einen Blick mit Frau Richter, mit der er oft zusammen fährt, sie zuckt die Achseln und läßt sich auf ihren Sitz fallen. Das Mikrophon braucht sie
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