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August

August

Titel: August
Autoren: Christa Wolf
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nicht mehr.
    Die Lilo hat auch gerne gesungen, oft kam Gesang aus dem Frauensaal. August weiß noch, wie er sich in den Frauensaal hineingeschlichen hat, wie ihm beim ersten Mal das Herz klopfte und wie er dann, als niemand ihn hinauswies, ganz selbstverständlich auf dem Stuhl neben dem Bullerofen saß und dem Gesang zuhörte. Manchmal stellte sich llse, die Schwesternschülerin, neben ihn und hörte mit, manchmal sang sie auch, wenn Lilo ein Volkslied angestimmt hatte, zum Beispiel »Wer recht in Freuden wandern will«, August kann es noch heute, aber er hat seit damals nie wieder gesungen. Wo auch, mit wem auch. Trude war keine große Sängerin. Aber das wird er nie vergessen, wie Lilo nach dem Singen an ihm vorbeiging und ihn anredete: Na, dir gefällt wohl die Musik? Und wie sie ihn dann fragte, wie er heiße, und wie er ihr seinen Namen sagen mußte: August. Und wie sie den Namen wiederholte, so daß er ganz anders klang, als wenn ein anderer ihn aussprach, und wie gerne er dann immer
seinen Namen aus ihrem Mund hörte. Denn von diesem Tag an hing er an ihr.
    Hängte er sich an sie, könnte man auch sagen, und es war ihm egal, ob sie es merkte oder überhaupt wollte, er tat, was er tun mußte.
    Der Winter kam, die Mottenburg wurde zum Eispalast. Die Oberschwester hörte nicht auf, den Behörden vorzuwerfen, daß sie Lungenkranke in eine Sumpfgegend verfrachtet hatten, in der im Herbst die giftigen Dämpfe aus dem Boden aufstiegen, und daß sie anscheinend vorhatten, sie alle jetzt im Winter erfrieren zu lassen. Sie konnte den alten Doktor, der einmal in der Woche aus Boltenhagen herüberkam, um die wichtigsten Fälle zu durchleuchten und den allerwichtigsten einen Pneumothorax anzulegen, zwingen, sich ihre Beschwerden anzuhören, während sie den langen Gang zum Behandlungszimmer hinuntergingen. Daß das Klima hier unweigerlich zu Erkältungen führte, die zu der Primärinfektion, deretwegen sie alle hier waren, hinzukamen und, was der Doktor nicht bestreiten werde, oft genug katastrophale Folgen hatten. Der Doktor bestritt es nicht, er bestritt gar nichts, er gab zu, daß etwas mehr Fett die Heilung der Lungenkrankheit befördern würde, nur daß eben die Oberschwester ihm auch nicht sagen konnte, woher sie das Fett nehmen sollte. Es gab es nicht, nicht über ein Jahr nach Kriegsende, nicht für Gesunde und nicht für Kranke. Dann schwieg die Oberschwester und rief die Kandidaten, die für dieses Mal zur Durchleuchtung vorgesehen waren, einzeln in das Behandlungszimmer, in dessen Mitte der Apparat stand, an den sie sich mit nacktem Oberkörper anschmiegen mußten, worauf der Arzt sich
das grünleuchtende Innenbild dieses Körpers von der anderen Seite der Scheibe her betrachtete und der Oberschwester diktierte, was er sah. Bei Lilo sah er ein Infiltrat im rechten dritten ICR , dem er ziemlich wohlgesinnt war, weil es sich im Laufe der Wochen nicht zu einer Kaverne entwickelte, wie es bei anderen Patienten leider häufig der Fall war. Bei Gabi zum Beispiel, die neben Ingelore Lilos engste Freundin war. Gabi war schmal, ein Strich in der Landschaft, sagte die Oberschwester mißbilligend, folgerichtig hatte sich aus der harmlosen Verschattung, mit der sie eingeliefert worden war, ungebührlich schnell jene Kaverne entwickelt, von der Gabi nichts wissen sollte, aber Lilo wußte Bescheid. Wegen des Personalmangels in der Mottenburg war sie zu einer Art Assistenzschwester aufgestiegen. Es oblag ihr, in den vorgeschriebenen Zeitabständen die Ergebnisse der Blutsenkungen an den Röhrchen abzulesen und zu notieren, die im Dienstzimmer der Oberschwester in einem Holzgestell aufgereiht waren und den Ärzten wichtige Anhaltspunkte für ihre Diagnosen gaben. Da August alles wissen wollte, was mit Lilo zusammenhing, ließ er ihr keine Ruhe, bis sie ihn oberflächlich in die Geheimnisse der Blutsenkung einweihte. Gemessen wurde in gewissen Zeitabständen der Stand der roten Blutkörperchen in dem Maßröhrchen, und je höher der Wert war, um so schlimmer. Um so besser, wenn er, wie bei ihr, Lilo selbst, nicht über zehn stieg, das sei ja ideal, sagte die Oberschwester. Sie konnte aber nicht verhindern, daß Lilo nun wußte, wie schwer die Befunde der anderen Patienten waren. Die Oberschwester nahm ihr, anders wußte sie sich nicht zu helfen, ein Schweigegelübde ab, an das sie sich übri
gens hielt. August hatte dafür ein volles Verständnis und große Hochachtung. Anders als vorbildlich konnte Lilo sich ja nicht
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