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August

August

Titel: August
Autoren: Christa Wolf
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ein Stadium, da war nichts mehr zu machen. Medikamente gab es ja nicht, höchstens im Westen bei den Amerikanern, und Fett, das einzige, was helfen konnte, gab es ja auch nicht. Übrigens wußte Fräulein Schnell im Frauensaal, daß Dachsfett Wunder wirken sollte, aber woher sollten sie nun ausgerechnet Dachsfett nehmen? Und aus dem Männersaal kam die Nachricht, mancher habe sich schon geheilt, indem er seinen eigenen Urin getrunken habe.
    Aber manche starben einfach. Gemeldet wurde das nicht, keine der Schwestern verlor ein Wort darüber. Eine merk
würdige Stille breitete sich aus, die sonst nie zu hören war. Immer gab es welche, die genau diesen Todesfall vorausgesehen hatten, aber selbst die schwiegen eine Zeitlang, wenn auch nicht länger als einen Tag. Bis der Sarg aus dem Haus war. Wann dies geschah, erfuhren die Schloßbewohner mit untrüglicher Sicherheit aus einer niemals ergründeten Quelle. Sie versammelten sich zur angegebenen Stunde an den Fenstern, die zum Hinterausgang blickten. Dort stand schon der mit Schwarz ausgeschlagene zweirädrige Karren, auf dem der Sarg zur kleinen Kapelle im Park transportiert werden würde. Neben dem Karren standen die, die ihn schieben würden: Karle, der Hausmeister, und zwei, drei Patienten aus dem Männersaal. August fiel auf, daß Harry niemals fehlte. Aber alle wollten nur den Sarg sehen: Ob die Leiche mit dem Kopf oder mit den Füßen zuerst aus dem Haus getragen wurde. Wenn sie nämlich zuerst die Füße hinaustrugen, würde diesem Toten bald ein nächster folgen, sozusagen nachlaufen. Das war verbürgt.
    Natürlich sollten die Kinder das alles nicht mit ansehen und anhören, sie wurden immer wieder verscheucht, aber sie sahen und hörten alles und flüsterten untereinander darüber. August, der auf Wunsch der Senioren eine Pause machen muß, der sich am Rand des schütteren Kieferngehölzes die Beine vertritt, sieht alles vor sich, als wär's ein naher Film. Wo er doch sonst so vieles vergessen hat, weil es sich nicht lohnte, denkt er, es zu behalten. Was hat er schon groß erlebt. Außer alles, was mit Trude zusammenhing, das weiß er noch, als wär's gestern gewesen. Wie sie immer in ihrem weißen Kittel an der Kasse der Spätverkaufsstelle saß. Wie er immer, wenn seine Schicht
zu Ende war, dort einkaufen ging. Wie sie ihn erkannte und anfing, ihn zu grüßen. Wie sie ihm half, die Ware in den Beutel zu stopfen, weil er darin ungeschickt war. Wie sie einmal zur gleichen Zeit die Verkaufsstelle verließen, sie noch ein paar Schritte mit ihm ging, weil sie bemerkt hatten, daß sie in der gleichen Richtung wohnten. Daß sie beide nicht verheiratet waren. Trude war ein Jahr älter als er. Einmal kam sie mit zu ihm rauf, weil er keine Ahnung hatte, wie er das Gericht kochen sollte, für das sie ihm die Zutaten verkauft hatte. Sie kochte also die Königsberger Klopse für sie beide, sie aßen zusammen, es schmeckte wunderbar, doch weiter war nichts. Das wäre ja auch noch schöner gewesen, dachte August, und so denkt er noch heute.
    Weiterfahrt. Die Senioren sind munter geworden. Der Bus nähert sich jetzt der Gegend um Bestensee, wo Trude geboren und aufgewachsen ist. Die Senioren haben wieder Lust zu singen, »Ännchen von Tharau« kennen sie fast alle, auch August kennt es. Ihm fällt ein, nach der Zeit in der Heilstätte, wo die Kinder mit Lilo zusammen sangen, hat er kaum noch gesungen. Ein erwachsener Mann singt nicht, wenn er nicht betrunken ist. Trude hat während der Küchenarbeit manchmal vor sich hin gesummt, auch wohl mal leise gesungen, »Warum weinst du, holde Gärtnersfrau« oder »Drei Lilien, drei Lilien, die pflanzt ich auf mein Grab«, das hatte August immer gefallen, er wußte dann, Trude fühlte sich wohl.
    Als im November der Sarg mit Gabi hinausgetragen wurde, begleitete die Lilo ihn im strömenden Regen bis zur Kapelle. Sie war dann den ganzen Tag verschwunden, sosehr August sie auch überall suchte. Nu laß sie man heute
in Ruhe, Jungchen, sagte die Oberschwester im Vorbeigehen zu ihm, da verkroch August sich in seinem Bett, und Herr Grigoleit sagte: Der Tod ist ein grausamer Richter. 
    Aber dieser Tod bewirkte doch auch etwas Gutes, auch wenn man so darüber nicht denken durfte, das wußte August schon. Die Lilo ging nicht mehr mit Harry spazieren, und wenn er ihr im Park auflauerte, machte sie kehrt und ließ ihn stehen, während August sie begleiten durfte. Alle redeten darüber, und natürlich erfuhr auch August, was geschehen war. In
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