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August

August

Titel: August
Autoren: Christa Wolf
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erzählte oder Gedichte aufsagte, August konnte nicht genug davon kriegen. Er bettelte so lange, bis sie ihm sein Lieblingsgedicht noch einmal aufsagte und er wieder jenen Schauder bei der Schlußzeile empfinden konnte: »In seinen Armen das Kind war tot.« Anneliese und Klaus hatten lieber das Gedicht vom Zauberlehrling, sie spielten es nach, und sogar Ede machte mit, wenn sie die Fluten darstellen mußten. Eines Abends aber übertraf ein neues Gedicht alles, was die Lilo ihnen bisher vorgetragen hatte, bis in die Nacht hinein wiederholte August sich die Handlung. Was ein Tyrann war, wußte er nicht, aber er hatte verstanden, daß der eine Freund bereit war, sein Leben für den anderen Freund einzusetzen. Schauerliche Zeilen, die August gleich auswendig konnte: »Ich lasse den Freund dir als Bürgen. Ihn magst du, entrinn' ich, erwürgen.« Noch nie hatte er eine solche Angst empfunden wie um das Leben dieses Freundes, noch nie ein solches Glück, als es durch die Treue seines Freundes gerettet war. Am nächsten Tag ging er zu Lilo und fragte sie: Sind wir Freunde? Und sie strich ihm über den Kopf und sagte: Ja.
    Und doch ging sie mit Harry spazieren, und August litt unter dem Verdacht, der könnte auch ihr Freund sein. In dem unwirtlichen, regnerischen, kalten Herbst stapften sie durch den verwahrlosten Park und redeten. Was hatte die Lilo mit diesem Harry zu reden, der ganz gewiß nicht schön war mit seinem welligen blonden Haar und der buckligen Nase, der immerzu den Mund verzog, weil er sich über alles lustig machte, und der nicht reden konnte, ohne dabei heftig die Arme zu bewegen. Die Lilo sah ihn von der Seite an, aber sie hörte ihm zu.
    August erinnert sich nicht, daß in jenem Herbst jemals die Sonne schien, immer fegte der Sturm den Regen gegen die Fensterscheiben, morsche Äste krachten von den alten Bäumen, die früh im Jahr kahl wurden, und in den morastigen Stellen rund um das Schloß sammelten sich große Pfützen. Es war ein einziges Desaster, fand die Oberschwester, und diejenigen, die in solche Gegend Lungenkranke schickten, müßten dafür bestraft werden. Das sagte sie glatt auch zu der jungen Ärztin bei der Visite, aber die zuckte nur die Achseln. Wo sollten die Behörden denn mit den Kranken hin.
    Übrigens mußte man ja froh sein, wenn die Frau Doktor überhaupt zur Visite kam. Wenn sie sich nicht den ganzen Tag in ihr Zimmer verkroch, das sie oben im Schloß bewohnte, weil sie von den Ausschweifungen der letzten Nacht noch verkatert war. Alles Wörter, die August zum ersten Mal von der Oberschwester hörte und über die die Kinder untereinander viel zu tuscheln hatten. Was sie selber gesehen hatten, war, wie die Frau Doktor früh am Morgen über die Balustrade der Terrasse kotzte, die an den Eßsaal anschloß, in dem sie über Nacht mit ihren Kumpanen gefeiert hatte, nicht ohne Lärm zu machen. Ein Wort wie Rücksicht kannte die nach Meinung der Oberschwester nicht. Der Lehrer aus dem Dorf kam regelmäßig, der Apotheker aus der Kreisstadt, ein paar verkrachte Existenzen, die das Kriegsende hier angespült hatte. Woher sie den Alkohol nahmen, den sie reichlich konsumierten, das wußte der liebe Gott allein.
    Häßlich war sie übrigens nicht, die Frau Doktor, mit ihrem langen dunklen Haar, ihrer schlanken Figur und ihren grünen Augen. Kein Wunder, daß sie die Männer an
zog wie der Honigtopf die Bienen. Und es mochte ja sein, daß sie die Jugendjahre, die der Krieg ihr versaut hatte, jetzt nachholen wollte. Bloß mit der Medizin hatte sie es eben nicht so. Da huschte sie schnell durch die Krankenzimmer, konnte sich die Namen der Patienten nicht merken, auch wenn sie lange schon hier lagen, und erst recht wußte sie nicht über ihre Krankheitsbilder Bescheid. Nervös blätterte sie in den Krankenakten, wenn der alte Doktor aus Boltenhagen etwas wissen wollte, und die Patienten amüsierten sich darüber, daß die Oberschwester, die genau alle Befunde kannte, den Mund hielt und nicht daran dachte, ihr beizuspringen. Schließlich beriet sich der Doktor mit ihr, ob ein Patient einen Pneumothorax bekommen sollte oder nicht. Darüber konnte man dann in den Krankenzimmern endlos debattieren, denn natürlich hatten die erfahrenen Patienten sich längst selber eine Meinung darüber gebildet, wie jeder zu behandeln sei. Sie wußten auch, was es bedeutete, wenn der Doktor auf den Pneu verzichtete, obwohl die Kaverne bei dem einen sich vergrößert hatte, denn die Krankheit erreichte eben manchmal
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