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August

August

Titel: August
Autoren: Christa Wolf
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beschweren. Nicht über die Trennung von ihr berichten. Über keinen Streit mit den Kindern klagen. Sie hatten keine Kinder, das hatte sich stillschweigend so ergeben, darüber hatte er mit Trude nicht erst reden müssen. Es fehlte ihnen an nichts. Und als Trude vor zwei Jahren starb, konnte er erst recht mit niemandem darüber reden.
    Das Hannelörchen hatte das kleinste Zimmer für sich allein, das nahmen alle als gegeben hin. So lebhaft und endlos sie gegenseitig ihren Krankheitsverlauf, die Befunde, mögliche Entlassungstermine erörterten, vom Hannelörchen war nie die Rede. Als gebe es sie nicht. Nur die Lilo mußte natürlich eine Ausnahme machen. August sah es gar nicht gerne, wenn die Lilo in Hannelörchens Zimmer ging, er wußte, daß sie ihr Lieder vorsang oder Geschichten vorlas. Er wußte auch, daß er sich nicht mit hineinschleichen durfte. Das ging so lange, bis die Oberschwester eines Tages die Lilo herausrief, mitten aus dem schönen Lied »Der Mond ist aufgegangen«, nein, sie durfte es nicht zu Ende singen, sie mußte auf den Flur heraus
kommen und sich anhören, daß sie diese Besuche beim Hannelörchen unverzüglich einstellen solle. Ob sie nicht wisse, wie schwer krank, wie ansteckend das Kind sei. Und ob sie sich selbst eine neue Infektion holen wolle. 
    Nein, das wollte die Lilo nicht. Aber sie konnte jetzt doch nicht einfach vom Hannelörchen wegbleiben, was sollte die sich denn denken. Sie werde sich an die Tür stellen, nicht mehr nahe an Hannelörchens Bett gehen, wo die Motten sicher dicht herumschwirrten. Und das tat die Lilo auch, die Oberschwester mochte sagen, was sie wollte. Wißt ihr, sagte die Lilo eines Nachmittags, was der Lieblingsspruch vom Hannelörchen ist? »Meine Güte, drei Bonbons in eine Tüte.« Aber sie hatten ja nicht mal drei Bonbons für sie. Wenn die Lilo sich von ihr verabschiedete, sagte sie: »In diesem Sinne rin in die Rinne.« Ihre Mutter muß eine ulkige Kruke gewesen sein, sagte die Oberschwester. Bald weigerte sich Schwester Ilse, beim Hannelörchen Blut abzunehmen, und auch Schwester Erika erklärte sich außerstande, in dieses dünne Ärmchen eine Nadel einzuführen. Die Lilo konnte die neueste Blutsenkung vom Hannelörchen also nicht ablesen, aber das war ja wohl auch nicht mehr nötig. Das sagte Harry zur Lilo. Die war nicht erfreut über diesen Spruch. Trotzdem ging sie mit Harry spazieren.
    Dresden. August kennt die Stadt noch als Ruine. Er kennt alle Stadien ihres Aufbaus, und er ist gerne hier. Er weiß, wie man am besten in die Innenstadt fährt, wo man parkt, wenn man die Fahrgäste beim »Italienischen Dörfchen« abgesetzt hat, wo sie unbedingt essen wollen. Sie laden ihn ein, aber er lehnt ab. Er holt sich an einem Stand eine Bratwurst und schlendert zur Frauenkirche hinüber. Er
geht jedesmal zur Frauenkirche, wenn er in Dresden ist. Daß sie die wieder aufbauen könnten, hat er nicht glauben wollen, daß sie nun fast vollendet ist, geht ihm nahe. Er ist nicht gläubig, Trude und er sind nie zur Kirche gegangen, auch nicht kirchlich getraut worden, der Standesbeamte war ziemlich nüchtern, aber sie haben dann in einem guten Restaurant ein Glas Sekt getrunken, zum ersten Mal in ihrem Leben, und sie waren in guter, beinahe feierlicher Stimmung. Daß diese Kirche hier wieder aufersteht, nimmt August wie einen Trost, er könnte nicht einmal sagen, wofür. Als er dann auf der Brühlschen Terrasse steht und die Wolkengebirge über der Elbe beobachtet, ist ihm wohl.
    Die Fahrt geht pünktlich weiter. Wenn er am Dreieck Spreewald vorbeikommt, muß August jedesmal daran denken, was für schöne Tage Trude und er einmal im Spreewald verlebt haben. Sie sind nicht oft verreist, er mußte im Urlaub nicht auch noch unterwegs sein, und Trude war eher ein seßhafter Mensch. Um so deutlicher prägen sich einem die Bilder der wenigen Reisen ein. Meistens machten sie Ferien auf ihrem Balkon, den die Trude mit viel Liebe in eine Blütenoase verwandelt hatte. Wenn sie nachmittags dort saßen, Kaffee tranken und selbstgebackenen Kuchen aßen und er ihr seine Zufriedenheit zeigte, konnte sie sagen, er sei wirklich ein genügsamer Mensch. Er hat ein gutes Leben gehabt, das kann ihm keiner bestreiten. August weiß nicht, ob er sich verändert hat, seit er ein Kind war, aber er erinnert sich genau, daß die Lilo einmal zu ihm gesagt hat: Du kannst wohl überhaupt nicht genug kriegen.
    Es stimmte: Egal, was sie tat, ob sie den Kindern Lie
der vorsang, Märchen
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