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Augen für den Fuchs

Titel: Augen für den Fuchs
Autoren: Henner Kotte
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Vergessenheit geriet die Schuld dieser Jungen. Dabei waren sie Mörder.
    Konstantin Miersch stellte sich den Fragen der Journalisten. Er leugnete seine Verantwortung nicht. Ja, er hatte die Leitung der Aktion innegehabt. Doch Miersch saß in Leipzig, war nicht vor Ort gewesen. Bei einer Verfolgung über die Landesgrenzen hinaus konnte die hiesige Kriminalpolizei die Entscheidungen nur in die Hände der dortigen Kräfte legen. Das hatte Miersch getan. Die Kollegen vor Ort hatten gehandelt. In Prag, Budapest, Belgrad. Europaweite Zusammenarbeit. Nach Mierschs Eindruck hatten alle besonnen und befehlsgetreu reagiert. Dann hatte das Fluchtauto in den serbischen Bergen einen auf der Straße befindlichen Traktor gerammt, war ins Schleudern geraten, explodiert und ausgebrannt. Unter Lebensgefahr waren die Insassen gerettet worden. Die Verantwortlichen beteuerten, dass sie das Hindernis den Flüchtenden nicht absichtlich in den Weg geschoben hätten. Ein tragischer Unfall. Miersch zweifelte nicht an dieser Wahrheit. Aber die Presse hatte jeden seiner Befehle bis ins kleinste Detail recherchiert. Als letztes Einsatzmittel ist von der Schusswaffe Gebrauch zu machen. Ja, er hatte diesen Befehl gegeben. Die Schusswaffe als letztes Mittel! Von ihr war nicht Gebrauch gemacht worden. Der tragische Ausgang war eine Verkettung unglücklicher Umstände. Aber damit wäre es keine Schlagzeile für Joseph Hönig und Seite eins gewesen.
    Mörder! Monster! Menschenschlächter! Seit Wochen verfolgten Miersch diese Rufe. Er schlief unruhig. Albträume quälten ihn. Er lag schweißgebadet im Bett. Am Morgen war das Laken verrutscht und feucht wie ein Handtuch nach der Dusche. Er gestand sich ein, dass er fertig war, am Ende, Burn-out. Mehrmals hatte er ans Aufgeben gedacht, alles hinschmeißen wollen. Er wäre längst weg, wenn ihm Abhauen nicht als Schwäche ausgelegt worden wäre, als Flucht vor der Verantwortung.
    Sonntagmorgen. Die Uhr zeigte 7.30 Uhr. Miersch hatte bis zehn schlafen wollen. Die Woche war anstrengend und nervenaufreibend gewesen. Und Margo tat ein Übriges. Er glaubte, sie bereits in der Küche zu hören. Miersch schloss die Augen wieder. Es machte nichts besser. Regentropfen knallten ans Fenster.
    Joseph Hönig war bei seiner Suche nach Sensationen auf Simona Thede gestoßen. Der Journalist witterte sofort die Chance auf eine gute Story. Tagelang hatte Simona auf den Zeitungsseiten gestanden. Glaube, Liebe, Hoffnung – Kampf einer Mutter um Gerechtigkeit. Honigs Artikel hatte weitere nach sich gezogen. Neben Simona beherrschte Miersch nun die Schlagzeilen. Auch überregional und im TV. Kein Mitleid. Keine Regung. Der Mann ist eiskalt. Dass die Täter mehrere Tote auf ihrem Weg hinterlassen hatten, war weniger spektakulär als ein toter junger Mann, ein Verbrecher im Koma und eine Mutter, die kämpfte, um was auch immer. Miersch fühlte sich zum Freiwild erklärt. Er hatte nach den Gesetzen gehandelt. Robert Zehmisch und Philip Thede waren Mörder, und doch genossen sie momentan Heldenstatus und Sympathie. Es war zum Kotzen. Miersch stand allein. Die Unterstützung in Präsidium und Stadtparlament hielt sich in Grenzen. Eindeutig wollten sich weder Dezernent noch OBM zur Sache äußern. Bitte verstehen Sie, dass wir zu laufenden Untersuchungen gar nichts sagen. Und die ihm unterstellten Kollegen lernte er jetzt erst richtig kennen. Hengstmann und Schmitt, Bröer und Kohlund – Miersch sah, wie sie sich auf den Gängen das Lachen verbissen. Sie hatten ihn als Westimport in Leipzig niemals gewollt, jetzt sahen sie die Chance, ihn endlich loszuwerden. Selbst seiner Sekretärin misstraute Miersch.
    7.40 Uhr. Er hatte es immer als Luxus empfunden, früh im Bett zu lesen. Es erinnerte ihn an die Ferienwochen im Dorf bei der Oma. Kühe auf Feldern. Hühnerkacke am Hacken. Der Wind rauschte in Bäumen. Kein Straßenlärm. Nichts. In der Bibliothek seines Großvaters hatte er Hans Dominik, Felix Dahn und Hans Fallada entdeckt. Morgens, wenn Oma frische Bäckersemmeln holte, las er. Manchmal bis Mittag. Doch heute lag neben seinem Bett kein Roman. Miersch konnte sich nicht erinnern, ob er in der Leipziger Wohnung jemals einfach nur zur Entspannung zu einem Buch gegriffen hatte. Fremde Welten, absurde Geschichten, er hätte schon lesen wollen … Aber die Arbeit. Der Stress. Gründe fanden sich immer. Auf dem Nachtschrank lagen die Zeitung von gestern und zwei Bücher, Kriminalistik und Die Geschichte der Deutschen Volkspolizei.
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