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Augen für den Fuchs

Titel: Augen für den Fuchs
Autoren: Henner Kotte
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wich ihm aus und trat ins Leere. Er ist von der Tenne in den Wender fürs Heu gefallen. Hajo hat nicht mehr lange geschrien, dann war es vorbei. Sebastian hat oben gestanden, die Gabel in der Hand. Er hat ausgesehen wie ein Sieger nach der Schlacht. Dann hat er geweint und ist er mir um den Hals gefallen. Ich hab’s tun müssen, Mutti, hat er gesagt. Ich hab’s tun müssen, sonst hätte mich Vater verraten. Ich hab längst geahnt, dass Sebastian die Mädchen getötet haben musste. Eine Mutter, du weißt …« Sie blickte zu Anne, die sie ungläubig anstarrte. »Mein Sohn – ein Mörder! Jetzt hatte er seinen Vater auch noch umgebracht. Meinen Hajo … Ich habe ihn sehr geliebt. Und dann hab ich Sebastian gestreichelt, ihm gut zugeredet und meine Hände um seinen Hals gelegt. Ich hab zugedrückt, und es hat geknackt, wie wenn man einen Hühnerknochen zerbeißt. Sebastian hat mich noch angeschaut und gar nichts begriffen. Erst ganz zum Schluss hat er verstanden. Vielleicht war er mir dankbar.«
    Rosel rutschte der Kopf auf die Brust. Sie weinte. Anne hatte Angst oder keinen Mut, ihre Hand länger unter der ihrer Mutter ruhen zu lassen. Sie zog sie zurück. Gunda stand auf und nahm Rosel in ihre Arme. Miersch nahm die Gabel und nahm noch einmal vom Kuchen. Er schmeckte so lecker wie Rosels Marmeladen.
    »Es ist vorbei, Omi, es ist alles vorbei.«
    Die Alte stand aufrecht, weinte, ihre Hände verkrampften sich im Tischtuch.
    »Die Vergangenheit ist nicht tot. Sie ist nicht einmal vorbei … Ich musste es sagen. Jetzt endlich hab ichs sagen können. Seit Jahren habe ich diesen Augenblick herbeigesehnt. Man kann mit Lügen nicht sterben. Gut, dass Sie gekommen sind.«
    Rosel nickte Miersch dankbar zu. Anne verschwand in ihrer Küche. Miersch legte die Gabel beiseite, griff nach Rosels Hand und streichelte sie. Der Fall war gelöst: Er saß der Mörderin gegenüber. Sie hatte Jahre mit ihrer Schuld gelebt und gelitten. Jetzt hatte sie alles gesagt. Das genügte.
    »In der Akte steht eine andere Wahrheit, und die ist gültig. Wie es wirklich gewesen ist, wissen nur wir vier. Das genügt. Oder? Bitte setzen Sie sich, Frau Popp.«
    Rosel nahm Platz, sie saß schweigsam und auf der äußersten Kante des Stuhles. Aus der Küche hörte Miersch Töpfe klappern und Wasser laufen. Er trank seinen Kaffee und aß ein zweites Stück Kuchen. Bald würde das Restaurant öffnen. Queißer würde erscheinen. Sie würden gut essen und richtig trinken. Miersch fühlte sich fast schon zu Hause, ging zur Theke und zapfte das erste Bier dieses Abends.

36
    Kohlund hatte niemanden mehr gefragt. Er hatte geschwiegen, wenn das Thema angesprochen wurde. Die Entscheidung konnte allein von ihm getroffen werden.
    Das Angebot Dr. Hackenbergers ehrte ihn, doch er scheute die Verantwortung. Er sah Konstantin Miersch auf Presskonferenzen vor zehn Kameras und zwanzig Mikrofonen sitzen. Er hörte ihn nach Worten suchen. Die Nachfragen der Journalisten zielten nicht allein auf die Arbeit der Leipziger Polizei, sie bohrten auch im Privaten.
    Diesen Stress wollte sich Kohlund nicht antun. Mehrmals hatte er sich von Manuela Hohmann aus Pressegesprächen rufen lassen. Oft war er erst gar nicht erschienen. Er sonnte sich nicht im Licht der Öffentlichkeit. Als Kriminaldirektor gehörten solche Auftritte zum Job. Kohlund wollte die Arbeit tun, für die er bezahlt wurde.
    Alexias Ablehnung hatte ihn schwanken und neu über die Postenübernahme nachdenken lassen. Aber sie ließ ihn auch zweifeln. Kohlund war nicht der Mensch, der sich gern produzierte. Als Kriminaldirektor war er für alle Ermittlungen im Präsidium verantwortlich. Heute noch war er dankbar, dass er nicht in den spektakulären Leipziger Mordfällen der letzten Zeit Mitja und Michelle ermitteln musste. Er war froh, dass in der Geiselnahme des sogenannten Discokrieges nicht er, sondern Agnes Schabowski die Verantwortung getragen hatte. Miersch hatte sie offiziell übernehmen müssen, qua seiner Stellung. Und jetzt sollte Kohlund sich auf diesen Stuhl setzen? Er erinnerte sich mit Abscheu an die übergroßen Schlagzeilen, mit denen Miersch gemeint war, von Mörder bis zum Monster war alles zu lesen.
    Nein! Er würde Dr. Hackenberger heute noch um einen Termin bitten. Doch Kohlund zögerte, sofort zum Hörer zu greifen. Er fühlte sich schuldig, anderen die Verantwortung zu überlassen. Vielleicht könnte er als Kriminaldirektor die Interessen seiner Kollegen besser vertreten. Er wusste nicht weiter.
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