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Aufzeichnungen eines Außenseiters

Aufzeichnungen eines Außenseiters

Titel: Aufzeichnungen eines Außenseiters
Autoren: Charles Bukowski
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Betroffene kehrt schnell wie der zu seinem normalen Leben zurück, verprügelt weiter seine Frau und steckt weiter seine Karte in die Stechuhr. Bei meinem Freund dagegen ist es keine vorübergehende Schwäche. Es scheint geradezu ein chronisches organisches Leiden zu sein. Er hat Ärzte in zahlreichen Ländern konsultiert — in der Schweiz, in Frankreich, Deutschland, Italien, Griechenland, Spanien, England. Ohne Erfolg. Von einem ist er sogar gegen Würmer behandelt worden. Ein anderer hat es mit Akupunktur versucht. »Das könnte es sein«, schrieb er mir, »Tausende von goldenen Nadeln in den Armen, im Nacken, auf dem Rücken . . . mit dem Trick könnte es vielleicht klappen.« Aus seinem nächsten Brief erfuhr ich, daß er es jetzt mit einem Voodoo-Zauberer versuchte. Und dann versuchte er gar nichts mehr. Er war bedient. Er war geliefert. Er war end gültig und für immer zum »Frozen Man« geworden. Einer der großen Dichter unserer Zeit, abgezehrt und paraly siert in seinem Bett in einem kleinen, dreckigen Zimmer in London; unfähig zu schreiben, unfähig etwas zu sagen; angewiesen auf die immer seltener werdenden Zuwendungen einiger peinlich berührter Wohltäter; innerlich erstarrt, gelähmt, versteinert — ein lebendes Fossil. Ich empfinde eine tiefe innere Verwandtschaft zu diesem Mann, denn ich selbst bin — und war schon immer, soweit ich zurückdenken kann — der geborene >Frozen Man<. Meine früheste Erinnerung ist die an unser Badezimmer, in dem ein dicker schwarzer Lederriemen hing, den mein Vater — ein lärmender, brutaler Schrank von einem Mann — weniger dazu benutzte, um seine Rasiermesser daran zu schärfen, als mir mehrmals am Tag damit den Rücken und den Hintern zu polieren. Diese Prügelszenen im Badezimmer schienen nach einem geheimen, undurchsichtigen Mechanismus abzulaufen und verdichteten sich allmählich in meiner Erinnerung zum Inbegriff eines zwanghaften Rituals der totalen Sinnlosig keit.
Zwischendurch pflegte er völlig planlos herumzulaufen und zu singen: »Oh when I was single / my pockets did jingle« (Ach, als ich noch Junggesell war / da zahlte ich immer in bar) — immer wieder, immer wieder diese beiden blödsinnigen Zeilen. Ich glaube, manchmal war es geradezu eine Erleichterung für mich, wenn er abrupt mit seiner Singerei aufhörte und wieder zum Riemen griff. Ich hatte das Gefühl, daß er mich für die Inkarnation seiner sämtlichen Schuldgefühle hielt.
Einmal in der Woche mußte ich ihm den Rasen mähen — einmal längs und einmal quer — und dann mit der Rasenschere die Ränder trimmen. Und wenn dann auch nur ein Grashalm noch aus der Fläche herausragte, gab es Prügel. Das war gleichzeitig der einzige Fall, wo ich einen handfesten Grund für die Prügel erkennen konnte. Nach den Prügeln mußte ich dann jedesmal hinaus und den Rasen gießen. Und inzwischen spielten die anderen Jungens in der Nachbarschaft Baseball oder Football und wuchsen zu normalen amerikanischen Menschen heran.
Der große Augenblick kam immer, wenn sich der Alte flach auf den Rasen legte und seine Luchsaugen über die gemähte Fläche streichen ließ — auf der Suche, nach dem EINEN Grashalm, der aus der Reihe tanzte. Er fand ihn immer. »Da, ich hab ihn! Du hast einen ausgelassen! DU HAST EINEN AUS - GELASSEN !« Und dann brüllte er zum Badezimmerfenster hinüber, an dem meine Mutter — ein edles germanisches Weib — in diesem Augenblick regelmäßig zu stehen pflegte: » ER HAT EINS AUSGELASSEN ! ICH SEH ES ! ICH SEH ES !« Und dann hörte ich die Stimme meiner Mutter: »Wie? Er hat eins AUSGELASSEN ? Eine SCHANDE ist das!« Und dann brüllte er: » REIN INS BADE - ZIMMER !« Ich also rein ins Badezimmer, Hosen runter und über die Kloschüssel gelegt. Und er riß den Riemen von der Wand und Ring frei zur nächsten Runde. Obwohl die Schmerzen gräßlich waren, empfand ich keine Wut. Ich fühlte nichts. Es war ein Mechanismus, dessen Ursachen mir verborgen blieben; Schuld empfand ich keine, folglich war das Ganze für mich uninteressant. Am schlimmsten war das Heulen. Ich wollte nicht heulen. Ich versuchte es zu unterdrücken. Es gelang mir nie. Hinterher bei Tisch wollten sie mir immer ein Kissen unter den lädierten Hintern schieben. Dabei schienen sie mit perversem Vergnügen meine inneren Kämpfe zu beobachten, ob ich das Kissen nun annehmen sollte oder nicht. Ich nahm es nie an. Eines Tages beschloß ich, nun auch nicht mehr zu heulen, wenn mich der Alte verdrosch. Es löste
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