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Aufzeichnungen aus dem Kellerloch: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)

Aufzeichnungen aus dem Kellerloch: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)

Titel: Aufzeichnungen aus dem Kellerloch: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)
Autoren: Fjodor M. Dostojewskij
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Hätte ich es erwarten können? Nein. Ich war so sehr Egoist, achtete die Menschen im Grunde so gering, daß ich nie darauf gekommen wäre, sie könnte so handeln. Das ertrug ich nicht. Im nächsten Augenblick fuhr ich wie ein Wahnsinniger in meine Kleider, warf mir das erste beste über, was mir unter die Hände kam, und stürzte atemlos ihr nach. Sie konnte noch keine zweihundert Schritte gegangen sein, als ich auf die Straße hinauslief.
    Es war ganz still, schwere dichte Schneeflocken fielen fast senkrecht zur Erde und legten das Trottoir und die leere Straße mit einem Polster aus. Kein Mensch, kein Laut. Traurig und unnütz flimmerten die Laternen. Ich lief etwa zweihundert Schritte bis zur Kreuzung und blieb dann stehen. – Wohin ist sie gegangen? Und wozu laufe ich ihr nach? Wozu? Um vor ihr niederzuknien, in Reue zu weinen, ihre Füße zu küssen, Vergebung zu erflehen! Das wollte ich: meine Brust drohte zu zerspringen, und niemals, niemals werde ich dieses Augenblicks gleichgültig gedenken können. Aber – wozu? dachte ich. Werde ich sie denn nicht vielleicht morgen schon hassen, gerade deshalb, weil ich ihr heute die Füße geküßt habe? Werde ich ihr denn das Glück bringen? Habe ich heute nicht wieder zum hundertsten Male gesehen, was ich wert bin? Werde ich sie nicht zugrunde richten? Ich stand im Schnee, spähte in die trübe Dunkelheit und dachte darüber nach.
    “Und ist es nicht besser, ist es nicht besser”, grübelte ich, wieder zu Hause, später, indem ich mit Phantasien den lebendigen inneren Schmerz zu betäuben suchte, “ist es nicht besser, daß sie nun die Kränkung ewig mit sich trägt? Kränkung – das ist doch Läuterung; das ist das ätzendste und schmerzendste Bewußtsein! Morgen schon würde ich ihre Seele durch mich verunreinigt und ihr Herz ermüdet haben. Die Beleidigung aber wird niemals in ihr erlöschen, und wie ekelhaft auch der Sumpf sein mag, der sie erwartet, die Beleidigung wird sie erheben und läutern … durch den Haß … hm! … vielleicht auch durch die Vergebung … Aber übrigens, wird ihr denn davon leichter?”
    In der Tat: jetzt möchte ich eine müßige Frage stellen: was ist besser – billiges Glück oder erhabenes Leid? Nun also, was ist besser?
    So war es mir, als ich an jenem Abend bei mir zu Hause saß, halb tot vor seelischem Schmerz. Niemals noch hatte ich so viel Leid und Reue durchgestanden; aber hätte der geringste Zweifel bestehen können, als ich aus der Wohnung stürzte, daß ich nicht auf halbem Wege umkehren und zurückkommen würde? Lisa habe ich nie mehr wiedergesehen und auch nie mehr etwas von ihr gehört. Ich möchte noch hinzufügen, daß ich mich mit der Phrase vom Nutzen der Kränkung und des Hasses lange zufriedengegeben habe, obgleich ich damals vor Gram beinahe selbst krank wurde.
    Selbst heute noch, nach so vielen Jahren, kommt mir dies alles irgendwie übel vor. Manches kommt mir jetzt übel vor, aber … sollte ich nicht hier meine »Aufzeichnungen« abbrechen? Ich glaube, es war ein Fehler, daß ich sie überhaupt begonnen habe. Wenigstens habe ich mich während des Schreibens dieser Novelle die ganze Zeit geschämt: also ist es nicht mehr Literatur, sondern Korrektionsstrafe. Denn lange Geschichten darüber erzählen, wie ich das Leben verfehlt habe durch moralische Zersetzung in meinem Winkel, durch Mangel einer Außenwelt, durch Entwöhnung von allem Lebendigen und durch sorgfältig gepflegte Bosheit im Kellerloch – das ist bei Gott wenig unterhaltend; ein Roman verlangt einen Helden, hier aber sind absichtlich alle Eigenschaften eines Anti-Helden zusammengetragen, vor allen Dingen wird das Ganze einen äußerst unangenehmen Eindruck hervorrufen, haben wir uns doch alle des Lebens entwöhnt, alle hinken wir, der eine mehr, der andere weniger. Haben wir uns doch so sehr entwöhnt, daß uns mitunter vor dem wirklichen ›lebendigen Leben‹ beinahe Ekel erfaßt, und darum können wir es nicht ausstehen, wenn wir an das Leben erinnert werden. Sind wir doch so weit gekommen, daß wir das wirkliche lebendige Leben beinahe für Arbeit, fast für einen Frondienst halten und im geheimen uns vollkommen einig sind, daß es nach dem Buch besser geht. Und warum zappeln wir uns zuweilen ab, warum gebärden wir uns wie toll, worum betteln wir? Das wissen wir selbst nicht. Es würde uns zu unserem eigenen Schaden gereichen, wenn unsere Grillen in Erfüllung gingen. Nun, probieren Sie es, geben Sie uns, meinetwegen,
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