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Aufzeichnungen aus dem Kellerloch: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)

Aufzeichnungen aus dem Kellerloch: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)

Titel: Aufzeichnungen aus dem Kellerloch: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)
Autoren: Fjodor M. Dostojewskij
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daß ein kluger Mensch ernsthaft überhaupt nie etwas werden kann und nur ein Dummkopf etwas wird. Ja, der Mensch des neunzehnten Jahrhunderts muß, er ist dazu sogar moralisch verpflichtet, ein im großen und ganzen charakterloses Wesen sein; dagegen ist ein charakterfester Mensch, ein Tatmensch – ein im großen und ganzen beschränktes Wesen. Dies ist meine vierzigjährige Überzeugung. Ich bin jetzt vierzig Jahre alt, und vierzig Jahre – das ist doch das ganze Leben; das ist das äußerste Alter. Länger als vierzig Jahre zu leben ist unanständig, trivial, unsittlich. Wer lebt denn noch über vierzig Jahre? Antworten Sie aufrichtig und ehrlich. Ich kann Ihnen sagen, wer über vierzig Jahre lebt: Dummköpfe und Spitzbuben. Ich will das allen Greisen ins Gesicht sagen, all diesen ehrwürdigen Greisen, all diesen silberhaarigen und parfümierten Greisen! Ich sage es der ganzen Welt ins Gesicht, ich habe das Recht, so zu sprechen, weil ich selbst bis sechzig leben werde! Bis siebzig werde ich leben! Bis achtzig werde ich leben! Warten Sie! Lassen Sie mich Atem holen …
    Sie glauben wahrscheinlich, meine Herrschaften, daß ich Sie zum Lachen bringen möchte, aber auch darin irren Sie sich. Ich bin durchaus kein so lustiger Mensch, wie es Ihnen vorkommt, oder wie es Ihnen vielleicht vorkommt; sollten Sie aber, verärgert durch dieses Geschwätz (ich spüre ja, daß Sie verärgert sind), auf den Gedanken kommen, mich zu fragen, wer ich denn eigentlich sei – so werde ich Ihnen antworten: ich bin ein Kollegienassessor . Ich diente, um nicht zu verhungern (einzig aus diesem Grund), und als im vorigen Jahr ein entfernter Verwandter mir testamentarisch sechstausend Rubel hinterließ, nahm ich sofort meinen Abschied und ließ mich hier in meinem Winkel nieder. Ich habe schon früher in diesem Winkel gelebt, jetzt aber ließ ich mich in diesem Winkel nieder. Mein Zimmer ist ein elendes, scheußliches Loch am Rande der Stadt. Meine Aufwartefrau – ein Bauernweib, alt, vor lauter Dummheit böse, zudem noch ständig unausstehlich riechend. Man sagt mir, das Petersburger Klima sei mir schädlich und Petersburg für meine kümmerlichen Mittel viel zu teuer. Ich weiß das alles ganz genau, besser als diese erfahrenen und überklugen Ratgeber und Kopfnicker. Aber ich bleibe in Petersburg; ich werde Petersburg nicht verlassen. Ich werde es nicht verlassen, weil … ach! Aber es ist doch vollkommen gleichgültig, ob ich es nun verlassen oder nicht verlassen werde.
    Übrigens: worüber kann ein anständiger Mensch mit dem größten Vergnügen reden?
    Antwort: über sich selbst.
    Also werde auch ich über mich selbst reden.

II
    Meine Herrschaften, jetzt möchte ich Ihnen erzählen, gleichviel, ob Sie es hören wollen oder nicht, warum ich nicht einmal ein Insekt zu werden verstand. Ich möchte feierlichst erklären, daß ich schon mehrere Male ein Insekt werden wollte. Doch nicht einmal dazu ist es gekommen. Ich schwöre Ihnen, meine Herrschaften, daß zuviel Bewußtsein – eine Krankheit ist, eine richtige, regelrechte Krankheit. Für den alltäglichen menschlichen Bedarf wäre ein gewöhnliches menschliches Bewußtsein mehr als genug, also etwa die Hälfte, ein Viertel jener Portion, die dem entwickelten Menschen unseres unglücklichen neunzehnten Jahrhunderts zukommt, der dazu noch das besondere Unglück hat, in Petersburg zu leben, der abstraktesten und ausgedachtesten Stadt der ganzen Welt. (Es gibt ausgedachte und nicht ausgedachte Städte.) So würde z. B. jenes Bewußtsein, mit dem alle sogenannten unmittelbaren Menschen, die Tatmenschen, leben, vollkommen ausreichen. Ich könnte wetten, Sie glauben jetzt, daß ich dies aus Anmaßung schreibe, um mich über die Tatmenschen lustig zu machen, noch dazu aus einer Anmaßung von allerschlechtestem Geschmack, daß ich mit dem Säbel raßle, wie mein Offizier. Aber meine Herrschaften, wer könnte denn auf seine Krankheit, auf seine Leiden stolz sein? Wer könnte sich mit ihnen brüsten?
    Übrigens, was sage ich? – Alle tun das. Man prahlt mit seinen Krankheiten und ich – meinetwegen – mehr als alle anderen. Streiten wir nicht darüber: mein Einwand ist absurd. Aber ich bin fest überzeugt, daß nicht nur zuviel Bewußtsein, sondern sogar jedes Bewußtsein eine Krankheit ist. Ich bestehe darauf. Aber lassen wir auch dieses Thema für einen Augenblick fallen. Sagen Sie mir bitte folgendes: Wie kommt es, daß ich ausgerechnet in jenen, ja, ausgerechnet in jenen
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